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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

unmöglich – die Tage würden immer kürzer, die melancholischen Abende, an denen die Kinder nicht zu Bett gehen wollten, immer länger – und wenn sich die Doktorin nicht geschämt hätte, so wäre sie lieber heut als morgen in die Heimath zurückgekehrt.

Nachdem man gestern schon zu der tödlichen Thätigkeit der Schreibspiele gegriffen und Pauls Ordinarius es sich zehnmal hatte gefallen lassen müssen, daß sein Steckbrief mit „Nase blau, Hände gelb, besondere Kennzeichen: wacklig“ und ähnlichen geistreichen Bemerkungen unter donnerndem Beifall der jeweiligen Verfasser ausgestellt worden war, hatte die thatenlose Ungezogenheit den höchsten Grad erreicht.

Erst prügelten und zanken sich alle Kinder ohne jeden ersichtlichen Grund, und dann verfielen sie auf den nicht minder unerfreulichen Zeitvertreib, das kleinste Geschwisterchen so lange zu küssen, bis dieses in blinder Wuth um sich schlug und sich jedem, der ihm mit zärtlichen Absichten nahte, in Haare und Augen einkrallte – ein unfreundliches Benehmen, zu dem die Mutter nach herzlos bemerkte, „sie könnte es dem Kinde keinen Augenblick verdenken!“

Frau Langer griff schließlich zu dem Auskunftsmittel, daß sie ihre sämmtlichen großen Kinder beiderlei Geschlechts unerbittlich mit dem Ausbogen von Unterröckchen für das Jüngste beschäftigte, ein Zweig der Thätigkeit, der die Jungen natürlich in ihren eignen Augen aufs tiefste herabwürdigte und von ihnen dementsprechend ausgeübt wurde.

Während Karl seine Arbeit nicht zu deren Vortheil mit Wuththränen befeuchtete, nähte Paul buchstäblich mit geballten Fäusten und fädelte bei jedem zweiten Stich die Nadel aus, in den Pausen furchtbare Drohungen gegen alle ausstoßend, die es je weiter sagen würden, daß er genäht hätte; denn ein Tertianer ließe es sich doch zehnmal lieber nachsagen, daß er Straßenraub getrieben, als daß er ein Unterröckchen ausgebogt hätte!

Die Drohung: „Du wirst gleich wieder nähen!“ blieb infolge dieses Nachmittags noch lange von unschätzbarem pädagogischen Werth für Karls moralische Ausbildung.

Die Spannung unter den Familiengliedern hatte unter diesen Verhältnissen den höchsten möglichen Grad erreicht; und wie es zu geschehen pflegt, so sollte auch hier die mit Zündstoff angefüllte häusliche Atmosphäre plötzlich und verderblich sich entladen.

Das Wetter war immer trostloser geworden, der Barometer sank so tief, daß man gar nicht begriff, wie er es anfing, nicht schon unten zu seinem Gehäuse herauszufallen, und die Kinder wurden immer ungebärdiger, je weniger ihre Lebensgeister sich in freier Lust austoben konnten. –

Das Haus, in dem unsere Ferienreisenden wohnten, diente in seinem Erdgeschoß als Telegraphenbureau, ein Umstand, der glühendes Interesse bei den Kindern erregte nebst dem sehnlichen Wunsch, einmal auch im Telegraphiren sich versuchen zu dürfen.

Das Heiligthum war ihnen aber streng verschlossen, und der Beamte, der das geheimnißvolle Ticken des Apparates zu deuten und zu leiten hatte, blieb immer unsichtbar. Er verrieth seine Anwesenheit nur, indem er bei zu lärmenden Spielen der Kinder laut und zornig gegen seine Zimmerdecke pochte.

Dieser Vorgang übte auf Elli und Anna ungefähr die Wirkung aus, die ein herabstoßender Weih auf eine Hühnerschar hervorzubringen pflegt – sie rannten ängstlich kreischend in eine Ecke und saßen dann gewöhnlich ein paar Stunden still verschüchtert da. Die Jungen dagegen trieben bald einen gewissen Sport damit, den Telegraphenmann so lange zu ärgern, bis er klopfte, ein artiges Spiel, welches seinen Reiz auch durch die Wiederholung nicht verlor.

Ein Sonntag brach für die schwergeprüfte Familie herein, der alle seine Vorgänger durch Regen und Wind beschämte. Eiskalte Luftströmungen zogen durch das ganze Haus, und die beherrschende Empfindung in dieser Sommerfrische war heut nur die Sehnsucht nach einem steifen Grog und einem Fußsack.

Das Kleine hatte sich erkältet und nieste ohne Aufhören, was es wie alle keinen Kinder jedesmal als persönliche Beleidigung auffaßte und worüber es bitterlich weinte. Elli hatte eine Fensterscheibe eingeschlagen und konnte sich, in einer Anwandlung von Gefühlsduselei, nicht über die Vollständigkeit der mütterlichen Verzeihung beruhigen. Mit marternder, zäher Ausdauer frug sie ohne Aufhören: „Mutter, bist Du auch wirklich wieder gut?“ eine Art von Gewissenhaftigkeit, über welche die Mutter viel ärgerlicher wurde als über die Fensterscheibe, und welche ihr zuletzt die Versichernug: „Ja, ich bin gut!“ in einem Tone entlockte, der besser zu „halt’ den Mund!“ gepaßt hätte. – Anna hatte sich in den Finger geschnitten und schrie nach Heftpflaster und alter Leinwand, die Jungen besaßen ein Blaserohr – woher, wußte kein Mensch! – und schossen mit Thonkugeln auf lebende und todte Gegenstände. Zum Ueberfluß kam die ewig beleidigte Sascha schon nach dem ersten Frühstück und wollte ein Kinderbuch wieder haben, das sie ihrer Freundin geborgt hatte, und das nun in allen Winkeln mit beständig offen gelassenen Thüren gesucht wurde – kurz, es war ein recht behaglicher Zustand.

Indeß die Mutter mit dem Fuß den Kinderwagen hin und her schob und mit der Hand Annas Finger kunstgerecht verband, ertönte plötzlich aus der anderen Stube ein lautes Geschrei, und ehe die Mutter noch Zeit fand, aufzuspringen und sich über die Ursache des Lärms aufzuklären, wurde die Thür stürmisch aufgerissen, Sascha stürzte im Sonntagskleide, in Thränen aufgelöst, ins Zimmer und mit dem zornigen Ruf: „Ich sag’s meiner Mama!“ zur andern Thür wieder hinaus, während plötzliche Todtenstille im Nebengemach auf düstere, dramatische Vorgänge zu deuten schien.

Ein vorsichtiges und leises Thürenklappen belehrte die Mutter, daß ihre Herren Söhne sich durch den zweiten Ausgang entfernt hatten, folglich wohl Ursache haben mochten, den mütterlichen Blick zu scheuen. Karl und Paul waren sich wirklich böser Thaten bewußt, indem sie die Polin mit einer Thonkugel an der linken Hand verwundet hatten, und der Androhung eingedenk, daß beim ersten Schaden am lebenden Inventar ihnen das Blaserohr weggenommen werden sollte, entfernten sie sich nun geräuschlos, mit den mütterlichen Zorn erst kalt werden zu lassen. Thatendurstig, wie die Langeweile so oft werden läßt, durchspähten sie das Haus und machten sich durch glückselige Rippenstöße und Mienenspiele auf die herrliche Gelegenheit zum Anstiften von Dummheiten aufmerksam, die sich ihnen darbot.

Der Telegraphenmann war einem sonntäglichen Vergnügen nachgegangen und hatte in unbegreiflichem Leichtsinn den Schlüssel in der Thür zu seinem Allerheiligsten stecken lassen! Die beiden Bruder näherten sich dem Gemach, zögernd wie Blaubarts Gemahlin – aber wie bei dieser, so siegte auch hier die Neugier – und mit der gegenseitigen Versicherung: „Wir wollen's uns bloß mal ansehn!“ verschwanden Karl und Paul in dem Telegraphenbureau und wurden nicht mehr gesehen!

Die Mutter, welche nie Ruhe hatte, wenn sie die Jungen sah, und noch weit weniger, wenn sie sie nicht sah, horchte und spähte indeß besorgt zum Fenster hinaus. Eine halbe Stunde nach der andern verging, ohne daß die sonst so geräuschvollen Brüder ihre Anwesenheit irgendwie kundgegeben hätten, und niemand wollte sie gesehen haben.

Alle gewöhnlichen Zufluchtsorte waren schon durchsucht worden, auch „der Hermann“, ein befreundeter Eingeborener, der immer einen Tag als „ganz nett“ besucht, den nächsten als „furchtbar frech“ in Acht und Bann gethan war, wußte nichts vom Verbleib der beiden Wackern zu berichten.

Jedes vorbeifahrende Boot verursachte der Mutter Herzklopfen in dem Gedanken, ihre Söhne könnten eine Lustfahrt auf eigene Faust unternommen haben! Elli und Anna durchrannten unter langgezogenen Rufen nach den Brüdern den ganzen Ort – aber alles war und blieb vergeblich.

Als nun gar die Vesperstunde hereinbrach, welche sich sollst als das unfehlbarste Mittel erwies, die Söhne des Hauses unter lautem Geschrei nach „Schnitten“ aus den entferntesten Winkeln der Erde herbeizulocken, und sich trotzdem nichts sehen und hören ließ, begann sich die Mutter einer gelinden Verzweiflung zu überlassen, die in einem Thränenstrom und halblauten Verwünschungen gegen jeden Landaufenthalt und diesen im ganz Besondern Ausdruck suchte und fand.

Während so die Stimmung drinnen dem trüben Wetter draußen glich, Elli und Anna sich um die Mutter mit den reizenden Trostgründen beschäftigten: „Vielleicht sind die Jungen ins Wasser gefallen! – vielleicht hat sie ein Zigeuner gestohlen!“ und sogar das kleine Geschwisterchen, vom allgemeinen Jammer verschüchtert, stumm und betrübt am Daumen lutschte, öffnete sich plötzlich die Thür, und mit dem eigentümlichen Bewillkommnungsgruß „au – zum Donnerwetter!“ trat der Vater ins Zimmer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_468.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)