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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Wie ein von der großen, geräuschvollen Welt abgeschiedener und noch in dem seligen Behagen des Friedens und ungetrübten Glückes ruhender Erdenfleck erschien diese Gegend dem Auge.

In imposanter Stattlichkeit erhob sich im Hintergrund eines großen, von weitläufigen Wirthschaftsgebäuden flankierten Hofs das aus grünen Parkanlagen auftauchende Herrenhaus, ein altes, schloßartiges Gebäude, einst der Stammsitz der gräflichen Familie Tolk, von der es Ericius seiner diesem Geschlecht zugehörigen Gattin zuliebe erworben hatte.

Das Haus des Direktors befand sich unter mächtigen Kastanienbäumen versteckt neben dem des Oberinspektors, eines Herrn von Alten, inmitten eines hübschen, kleinen Gartens.

Hunde bellten, neugierige Mädchen und Knechte erschienen in den Thoren der Scheunen und Ställe, vorübergehende Arbeiter zogen die Mützen, die eben zum Melken abfahrenden Dirnen, nebeneinander sitzend auf offenen Wagen, unter denen blankgeputzte Milcheimer schaukelten, grüßten mit kurzer Kopfneigung, und endlich hielt der Wagen vor dem Haus des Direktors. Ole, Tromholts Diener, sprang hinab, in der Thür erschien Marieken, die alte Wirthschafterin, und Richard führte seine Schwester in die für sie im ersten Stockwerk hergerichteten Gemächer.

Während sie sich’s dort bequem machte, suchte er seine eigene, im Erdgeschoß liegende Wohnung auf. Aber er glaubte seinem Auge nicht trauen zu sollen, als er beim Eintritt – Ingeborg, die Tochter von Peter Elbe, vor sich sah.

„Sie, Sie, Fräulein Ingeborg?“ rief er, seinem ungemessenen Erstaunen Ausdruck verleihend.

„Ja, ich! Verzeihung, Herr Direktor!“ erwiderte das schöne Mädchen, mit flehenden Augen zu ihm aufblickend, und wäre vor ihm ins Knie gesunken, hätte er sie nicht daran gehindert.

„Weiß jemand außer der Alten, daß Sie hier im Hause sind?“ fragte Richard, rasch die Sachlage überdenkend.

„Ich hoffe nicht!“ entgegnete Ingeborg. „Ich kam gestern nacht auf Umwegen hierher, weckte Marieken und sagte ihr alles.“

„Sie haben also nicht, wie angenommen wurde, das Dampfschiff benutzt?“

„Nein, Herr Direktor! Ich wünschte nur, Larsen von meiner Spur abzulenken.“

Einen Augenblick schwieg Richard Tromholt, dann sagte er, voll warmherziger Theilnahme in Ingeborgs Zügen forschend: „Sie lieben den Kapitän nicht?“

„Nein, ich hasse ihn!“ stieß das Mädchen hervor.

„Wäre es aber dann nicht richtiger gewesen, Sie hätten ihn und die Ihrigen von Ihrem Entschluß früher in Kenntniß gesetzt? Haben Sie nicht bedacht, welch furchtbaren Herzenskummer Sie Ihrem Vater durch Ihre Flucht bereiten würden?“

„Ach, – ja – mein Vater, mein guter, alter Vater!“ flüsterte Ingeborg, indem sie stöhnend das Haupt sinken ließ.

Ihr Schmerz that Richard weh, darum gelangte er, auf weitere Aufklärung verzichtend, zu einer schnellen Entscheidung.

„Jeden Augenblick,“ sagte er, sie beruhigend, „können meine Schwester, der Oberinspektor und andere Leute vom Gute hier eintreten. Wir wollen deshalb zunächst nur ins Auge fassen, was jetzt für Sie zu thun ist, und das Vergangene auf sich beruhen lassen. Ich werde für Sie eintreten, Ingeborg, auch wenn ich die Gründe Ihrer Handlungsweise nicht kenne. Wollen Sie sich ganz meiner Führung überlassen?“

Ihr stummer Blick sagte ihm, wie sie ihm für sein Vertrauen dankte, und wie sie’s erwidern wollte. Ja, mehr noch als Dank und Vertrauen sprach aus diesem Blick, etwas, das Richard nicht verstand oder nicht verstehen wollte.

„Wohlan,“ sagte er, „dann reisen Sie noch heute von hier fort, und zwar nach Hamburg, und begeben sich in das Haus meiner Schwester, der Frau von Gunar, die in einigen Wochen dahin zurückkehrt. Daß es Ihnen an nichts fehlen wird, dafür werde ich sorgen. Später werden wir weiter sehen. Vielleicht können Sie bei ihr bleiben, ich hoffe es. Sonst aber müssen wir uns nach einem Hause umschauen, in dem Sie Beschäftigung und Erwerb finden. Ist’s recht so, Fräulein Ingeborg?“

Ohne Antwort zu geben, beugte sich das Mädchen tief zu Tromholt herab und drückte die Lippen auf seine abwehrenden Hände.

„Noch eins zu meiner Beruhigung,“ fuhr er, sie sanft emporrichtend, fort: „Ist er schlecht, kein Ehrenmann, der Kapitän?“

„Falsch ist er und roh! Ich wußt’ es längst und wußte auch, daß ich nie die seine werden könne. Aber die Furcht vor seiner Rache, die Scham und die Sorge um meinen Vater, der ihm so zugethan war, lähmten mir den Muth, zu sprechen. Da vergaß ich alles andere und that, was Sie wissen.“

Die Erinnerung überstandener Qual machte Ingeborg, aufs neue erzittern. „Armes Kind!“ sagte Richard, indem er ihr mit der Hand über den Scheitel strich. „Aber nun gehen Sie zur alten Marieken, niemand sonst darf Sie hier sehen. Inzwischen spreche ich mit meiner Schwester, besorge alles Nöthige, und den Abend noch können Sie abreisen. Leben Sie wohl, vergessen Sie das Vergangene und blicken Sie vertrauensvoll in die Zukunft!“

Er drückte ihr die Hand, dann entfernte sie sich nach einem langen Blick auf Richard durch eine Hinterthür, während dieser zu seiner Schwester emporstieg. –

*               *
*

Bianca war, wie Richard auch nicht anders vorausgesetzt hatte, einverstanden, Ingeborg bei sich aufzunehmen. Die letztere hatte Limforden bereits verlassen, und Tromholt – es war gegen Mittag des folgenden Tages – bereitete sich vor, Herrn Ericius und dessen Familie zu empfangen.

Eine prächtig geschmückte Ehrenpforte war errichtet worden; allerlei sonstige Empfangseinrichtungen zu treffen, hatten sich die drei obersten Verwaltungsbeamten ebenfalls nicht nehmen lassen. Da zu Limforden ein großes Kirchdorf gehörte, so waren auch der Pastor, die Lehrer, die Schulkinder und viele Dorfbewohner erschienen und hatten am Thoreingang sich aufgestellt.

Aber als Richard kurz vor dem erwarteten Eintreffen der Herrschaften mit Bianca über den Hof schritt, kam ihm Alten, mit dem er in einem besonders vertraulichen Verhältniß stand, unter allen Anzeichen größter Bestürzung entgegen, hielt ein Papier in der Hand und zeigte dem durch seine Haltung beunruhigten Tromholt den Inhalt einer eben eingetroffenen Depesche:

„Gutsverwaltung Limforden. Mein Mann plötzlich verschieden. Reise vorläufig verschoben. Weiteres schriftlich.

Frau John Ericius.“ 

Diese Nachricht traf Richard wie ein vernichtender Schlag; für Minuten stand er wie gelähmt; das warf all’ seine Pläne übern Haufen. Was sollte nun aus dem begonnenen Werke werden? Was aus ihm selbst?

Am Nachmittag, nachdem die erste Bestürzung sich gelegt hatte und alle zu der Empfangsfeierlichkeit Herbeigeeilten zu ihren Beschäftigungen zurückgekehrt waren, wanderte Richard, um die quälenden Gedanken loszuwerden, mit seiner Schwester hinaus an die Seen, deren Trockenlegung nicht mehr fern war. Hunderte von Arbeitern waren auch hier beschäftigt. Die Dampfpumpen schöpften das Wasser aus und leiteten es in die Abzugskanäle, die ganze Gegend hallte wieder vom Lärm ihrer Thätigkeit. Auf dem Rückweg besuchten die Geschwister gleichzeitig die Holzschneidereien, die Richard als sein erstes, eigenstes Werk besonders am Herzen lagen. Auch hier herrschte ein unruhig bewegtes Leben. Das schnurrte und stöhnte und stampfte und pustete – die Musik der Arbeit!

Wie lange noch? dachte Richard. Ja, die Pflicht, die Arbeit, die waren’s, die ihn aufrecht gehalten hatten bei jeder Sorge und die das Weh in seiner Brust übertäubt hatten. Und nun, was nun? Bald würde es vielleicht still sein hier, todtenstill – hier und überall, nur nicht in seinem Herzen. –

Die schwermüthigsten Gedanken bewegten Tromholt, und Biancas liebevolles Zureden vermochte nicht, sie zu zerstreuen. Voll der trübsten Ahnungen kam er nach Haus. Er verbrachte eine schlaflose Nacht, und als er am nächsten Morgen unter den verschiedenen Schreiben, welche ihm die Post gebracht hatte, auch eines mit dem Poststempel „Kiel“ und den Schriftzügen der Frau Ericius auf der Adresse vorfand, glaubte er seine schlimmsten Besorgnisse erfüllt. Mit einer Art dumpfer Entsagung löste er das schwarze Trauersiegel und las den Inhalt:

Geehrter Herr Direktor Tromholt!

Nach Empfang dieser Zeilen bitte ich Sie, sofort abzureisen und auch diejenigen Herren, die meinem Mann das letzte Geleit geben wollen, zu bitten, unverzüglich aufzubrechen. Für Sie privatim und zunächst im engsten Vertrauen füge ich hinzu, daß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_462.jpg&oldid=- (Version vom 1.11.2022)