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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Chor schweifen läßt! Die Wirkung des ganzen, allerdings sehr einfach gehaltenen Innenraums (s. unser Bild S. 445) ist eben infolge dieser Einfachheit eine ungetheilt mächtige und weihevolle, was durch die vortheilhaften Raumverhältnisse unterstützt wird. Die harmonische Gleichbreite der 5 Schiffe mit zusammen 48,75 Metern (je 15 Meter im Lichten) wiegt die Höhe des Mittelschiffs von 41,6 Metern wohlthätig auf, während beim Kölner Dom die übermäßige Höhe des Mittelschiffs mit fast 44 Metern nahezu der Gesammtbreite von 45 Metern gleichkommt und die Seitenschiffe mit 19 Metern Höhe verhältnißmäßig niedrig erscheinen gegen 20,35 Meter der Ulmer. Die Länge des Münsters im Lichten beträgt 123,75 Meter (Köln 119 Meter), wobei auf das Langhaus allein 75,50, auf die lichte Thurmhalle 17,50, auf den Chor 30,75 kommen. Das Münster zu Straßburg hat 30 Meter Mittelschiffhöhe. Der Flächeninhalt in Ulm beträgt im Lichten nach Abzug der Pfeiler etwa 5100 Quadratmeter, was dem Raum für 28-30000 Personen gleichkommt (Köln 6200 qm durch das Querschiff, Straßburg 4100, St. Stefan 3200, Freiburg 2960).

Indem der Besucher durch den herrlichen Säulenwald der Seitenschiffe das Auge schweifen läßt und am 3. Pfeiler linker Hand im Mittelschiff die Kanzel mit dem geschnitzten Kanzeldeckel des jüngern Sürlin (1510), am 7. rechter Hand das Relief der Grundsteinlegung bemerkt, zieht es ihn hinauf zum Chor. Als dessen Wächter steht links das 90 Fuß hohe Sakramentshäuschen aus den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts, dem späteren der Nürnberger Lorenzkirche ebenbürtig, ja an Reinheit der Formen überlegen – „gegossener Stein“, wie die Alten bewundernd sagten. Vom Triumphbogen hängt ein riesiger Kruzifixus herab, in der Hütte nach einem früher dem Münster gehörigen alten Original sürlinscher Zeit (jetzt in der alten Klosterkirche Wiblingen) geschnitzt, ein Geschenk der Ulmischen Garnisonsgemeinde an das Münster zum Lutherjubeljahr 1883. Ueber diesem Hängekreuz breitet sich an der Triumphbogenwand ein erst seit 1880 wieder aufgedecktes altes Freskogemälde aus, „Das jüngste Gericht“, das unsere Innenansicht zeigt, ein Werk aus dem Jahre 1470, welches sich durch seine Riesenausdehnung (es bedeckt 136 Quadratmeter, zählt nicht weniger als 213 Köpfe und die Christusfigur ist 3½ Meter hoch) den größten Darstellungen dieser Art zur Seite stellt, aber durch innere Vorzüge der lebendigen Gruppirung und Individualisierung alle überragt.

Das Ulmer Münster im Jahre 1666.
Mit dem Festzug am 30. Juni 1666.

Aber die größten Kunstschätze birgt der Chor des Münsters. Die Berühmtheit des Dreisitzes und großen Chorgestühls von Jörg Sürlin d. ä. (1469 bis 1474/75) mit seinen unvergleichlichen Büsten von 7 Sibyllen und 7 heidnischen Weisen und Dichtern hat längst die ganze Welt durcheilt. Ebenso auch der Ruf der beiden gemalten Fenster von Hans Wild vom Jahre 1480 mit dem Stammbaum Christi etc. Indessen besitzt das Münster aus Stiftungen von Ulmern wie den Familien Bürglen, Daumer, Leube-Dieterich, Wieland im Chor und Seitenschiff neue Glasmalereien, die zu den besten gehören, welche die Neuzeit aufzuweisen hat. Je fader vielfach die neuen Glasmalereien sich in der Farbe geben, desto mehr ist die glückliche Nachahmung der Alten in den neuen Ulmer Fenstern hervorzuheben, die Gluth und Harmonie, die Tiefe der Farben, welche hier von den Münchener Anstalten (Burckhardt, Zettler) erreicht ist. Die wunderbare Kunst der Glasmalerei war lange wie verloren. Ihr Wiederentdecker ist der Nürnberger Siegmund Frank (1769 bis 1847), welcher damals die Münchener Werkstätten schuf, aus denen eine Erneuerung der herrlichen Kunst hervorging. Ulm selbst rühmt sich, den Dominikaner Jakob Griesinger seinen Sohn zu nennen, welcher 1441 bis 1491 der gefeierte Glasmaler des Bologneser Doms war und dort begraben liegt. Es ist zwar nur eine Sage, daß dieser Jacobus Allemanus das Gelb der alten Glasmalerei erfunden habe, dessen mondscheinmilden zarten Glanz man vergeblich bis heute wieder zu erreichen trachtet. Aber diese Sage bezeugt immerhin, wie es mit solchen Dingen zugehen mochte, und wir wollen sie erzählen: Der Bruder Jacobus war eben mit Einbrennen von Schmelzfarben beschäftigt, als ihm ein silberner Gewandknopf auf eine in der Schmelze befindliche Glasplatte fiel. In diesem Augenblick wurde er zu seinem Abte abgerufen. Als er wiederkam, sah er von jener Stelle das köstliche Kunstgelb sich entgegenleuchten, das aus Ocker und schwefelsaurem Silber hergestellt wird. - Es kam aber dasselbe nachweislich schon vor Griesinger vor.

Größere Beachtung als bisher verdienen die Oelgemälde, welche das Ulmer Münster besitzt; vor allem die unzweifelhaft echten Bilder aus Martin Schaffners bester Zeit. So wenig wir Sicheres von dieses Meisters Geburts- oder Todesjahr und seiner Heimath wissen, so kommt er doch 1521-1535 urkundlich in Ulm vor. Wir geben unsern Lesern die Ansicht des Choraltars (Schaffneraltars, S. 447). Es ist ein sogenannter Sippenaltar, dessen plastische und bildliche Darstellungen die heilige Sippe, d. i. den weiteren Familienkreis der Maria nach der Legende, zum Gegenstand haben. Demnach zeigt der Altarschrein die heilige Anna und Maria mit Kind, hinter diesen die drei Männer der ersteren (Cleophas, Salome, Joachim, den Vater der Maria) und dann den heiligen Joseph. Die Flügelgemälde führen nun die Sippe der beiden ersteren vor, Maria Cleophä mit ihrem Gatten Alphäus und Kindern, den zukünftigen Aposteln Jacobus dem älteren etc. etc. Es sind köstliche Verherrlichungen deutschen Familienlebens, voll Anmuth und Grazie. Die Kindlein spielen auf dem Schoße oder zu Füßen der Mütter mit Steckenpferd und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_448.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)