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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

aufgebrochen sind. Wir wandern nach dem Theater, das am nördlichen Ende des Dorfes steht. Die Gartenlaube hat es bereits früher, Seite 665 des vorigen Jahrgangs, beschrieben. Es ist ein umfangreicher Bretterbau mit festgefügtem Balkengerüst und umfaßt fünftausend amphitheatralisch ansteigende Sitzplätze.

Die rückwärtigen höheren Sitzreihen enthalten die theueren bedeckten Plätze; näher der Bühne zu und niedriger liegen die unbedeckten Plätze; sie sind wohlfeiler und werden meist von dem Landvolk eingenommen. Für Fürstlichkeiten ist eine besondere Loge mit Vorzimmer und allen möglichen Bequemlichkeiten versehen hergerichtet worden. Zehn große Ausgänge führen unmittelbar ins Freie, um den Zuschauerraum bei einem etwaigen Unglücksfall in kürzester Zeit entleeren zu können, während ein Krankenhaus und eine Feuerwehrstation in der Nähe des Passionsspielhauses selbst den ängstlichsten Gemüthern Beruhigung gewähren dürften. Das ganze Theater ist eben erst neu gebaut worden, unter der Leitung des Obermaschinenmeisters Lautenschläger vom Münchener Hoftheater. Durch diesen Neubau wurde der Raum vergrößert, die Dekorationen wurden stilgerecht, das bühnentechnische Zubehör brauchbarer. Auch die Beleuchtung des Spielraumes, die bei den früheren Aufführungen recht mangelhaft war, ist wesentlich verbessert worden. Man erhellt die Panoramadekoration durch regulirbares Tageslicht und unterstüzt die Wirkung durch künstliche Beleuchtung der theilweise durchsichtigen Dekorationsstücke.

Ebenso geht die Verwandlung der Bilder rascher vor sich und die ganze Maschinerie, namentlich das Flugwerk für die Himmelfahrt Christi, hat hat mannigfache Verbesserungen erfahren. Das Orchester ist tief gelegt wie beim Bayreuther Wagnertheater. Hinter der Bühne liegen die Garderobe- und Requisitenräume, in welche unserem Künstler ebenfalls ein Blick verstattet worden ist (s. Bild S. 398).

Die Bühne ist eine weitläufige Einrichtung, an das altgriechische Theater erinnernd. Sie besteht aus einem zweiundvierzig Meter breiten Proscenium, welches sowohl für den Chor, als auch für die Schauspieler berechnet ist. Hinter diesem Proscenium, in der Mitte desselben, befindet sich ein kleinerer gedeckter Theaterbau, in welchem die lebenden Bilder und ein Theil der eigentlichen Handlung ihre Stätte haben. Zur Rechten und zur Linken desselben sieht man in die Straßen von Jerusalem; an diese schließen sich wiederum rechts und links zwei schmale Gebäude, die Paläste des Annas und des Pilatus, jedes mit einer Freitreppe nach dem Proscenium herab. Diese Paläste fügen sich wieder an Bogengänge an, welche dem Chor zum Ein- und Austritte dienen.

Die Kreuzabnahme.

Durch eine solche Gesammteinrichtung ist eine große Mannigfaltigkeit und reiche Gliederung des Bühnenraumes gegeben. Einzelne Theile der Handlung spielen auf der Mittelbühne, andere rückwärts in den Straßen; wieder andere auf dem Proscenium, und einzelne endlich, wie die Verhandlungen vor Annas und vor Pilatus, auf den Freitreppen der erwähnten Paläste (s. Bild S. 405). Die Mittelbühne besitzt Dekorationen und Coulissen; über das Ganze aber sieht der Zuschauer von den höheren Plätzen aus die grünen Matten und Wälder der Oberammergauer Berge hereinschauen.

Diese Gestaltung der Bühne entspricht in vorzüglicher Weise dem ganzen geistigen Aufbau des Passionsspieles. Dasselbe beruht auf dem Grundgedanken, die eigentliche Leidensgeschichte Christi, vom Einzuge in Jerusalem bis zur Auferstehung, mit alttestamentlichen Ereignissen derart in Verbindung zu bringen, daß jedem Hauptmoment der Leidensgeschichte als Einleitung ein oder zwei lebende Bilder aus dem Alten Testamente vorangehen, um zu zeigen, wie jene Hauptmomente in früheren Ereignissen ihre Vorbilder haben. Die Aufgabe des Chores ist es, diesen Zusammenhang zu erklären, auf jeden einzelnen Theil der dramatischen Handlung vorzubereiten. Dabei erfüllt aber dieser Chor noch eine andere Aufgabe. Er ist es, welcher dem ganzen Passionsspiele jenen eigenthümlichen Zug eines Laiengottesdienstes verleiht, durch welchen es zwar an dramatischem Leben verliert, aber weit mehr an Würde und Weihe dafür gewinnt.

Lassen wir nun das Spiel seinen Anfang nehmen.

In dem von fünftausend Menschen gefüllten Zuschauerraume wird es still; die einfache und würdige Ouverture, von Ammergauer Musikern pünktlich ausgeführt, beginnt. Wie sie zu Ende ist, tritt aus den Säulengängen an den Seiten der Bühne der Chor, etwa fünfundzwanzig Männer und Mädchen in antikem Priestergewande. „Schutzgeister“ nennt das Volk herkömmlicherweise die Gestalten dieses Chores; sie tragen weiße Tuniken, darüber faltenreiche goldverbrämte Mäntel von verschiedenen Farben, Diademe auf den Häuptern. Ihre Bewegungen sind ernst und gemessen.

Nach einem vom Chor gesungenen Prolog erhebt sich der Vorhang der Mittelbühne; als lebende Bilder erscheinen zuerst die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradiese; dann ein leeres Kreuz mit anbetenden Frauen und Kindern. Auch der Chor sinkt anbetend nieder; nachdem das lebende Bild verschwunden ist, mischt sich in den Gesang des Chores, von rückwärts erschallend, das Hosianna, das dem in Jerusalem einziehenden Christus zugerufen wird. Der Chor leitet jede der siebzehn „Vorstellungen“, aus welchen das ganze Passionsdrama besteht, ein; er steht in geschlossenem Bogen vor der Mittelbühne, während deren Vorhang geschlossen ist, und löst sich zurücktretend in zwei Hälften auf, wenn der Vorhang aufgezogen wird.

Und nun quillt aus den Straßen Jerusalems der scheinbar endlose Zug, welcher den Heiland geleitet, jubelnd und Palmzweige schwingend. Wir sehen Christus selbst, von der Eselin hereingetragen, eine würdevolle und edle Erscheinung; wir sehen ihn, wie er die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel vertreibt und die Tische der Wechsler umstürzt.

Nun folgen, streng an die Darstellung der Evangelien sich haltend, die Ereignisse in mächtiger Steigerung: die Anschläge

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_400.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2022)