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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

entleerten sich rasch, und nach wenig Minuten, wenn der Tanz begonnen hatte, würde sie hier ganz allein und verlassen sein.

Da wurde der Vorhang vor der Thüröffnung mit einer ungestümen Handbewegung zurückgeschlagen, wie sie Engelbert eigenthümlich war. Er blieb auf der Schwelle stehen und schaute suchend umher. Sein Gesicht war etwas erhitzt, aber seine Augen leuchteten vor Vergnügen.

„Ah, da bist Du ja!“ sagte er freudig, als er Marie auf dem Rundsofa unter dem hohen Pflanzenaufbau erspäht hatte. „Ich hatte kaum noch Hoffnung, Dich erwischen zu können, darf ich um Deine Tanzkarte bitten?“

Er sprach ganz so unbefangen und vertraulich wie sonst. Marie athmete in glücklicher Erleichterung auf; denn schon hatte sie angefangen zu fürchten, daß er ihre Zurückweisung von vorhin durch schmollendes Sichfernhalten strafen würde.

In fliegender Hast hatte Engelbert ein paar Bleistiftstriche auf das Täfelchen geworfen.

„Es ist ein Unglück, daß ein Theil der Pflichten des Wirthes auch auf meine Schultern fällt,“ sagte er, indem er es ihr zurückgab; „wenn ich Herr über mich wäre, hätte ich Dich für den ganzen Abend keinem anderen gegönnt.“

Dabei wandte er den Kopf schon wieder nach der Thür, als fürchtete er, irgend jemand könnte ihn vermissen und sein Fernbleiben übel vermerken. Und es entging ihm infolge dieser Bewegung, daß Marie für einen Augenblick die Lippen schmerzlich zusammenpreßte und daß ihre Finger die zierlichen Stäbe des Fächers umklammerten, als ob sie ihn zerdrücken wollten.

Nur für eine Polka-Mazurka hatte sich Engelbert eingeschrieben, für die vorletzte Nummer der ganzen Tanzordnung!

„Wahrhaftig, da geht der Rummel schon los!“ meinte er aufhorchend und allem Anschein nach in Mariens Schweigen gar nichts Auffälliges findend. „Ich habe die kleine Hainried engagiert, und wenn der Alte Anwartschaft auf das Portefeuille des Kriegsministers hat, darf man die Tochter natürlich nicht warten lassen.“

Als er ihre Karte in der Hand hielt, mußte er gesehen haben, daß sich bei ihr noch niemand um den ersten Tanz beworben hatte, und er mußte auch wissen, daß sie dadurch in eine peinliche Verlegenheit gerieth. Aber es fiel ihm nicht ein, sich darum im mindesten zu kümmern. Ohne ein weiteres Wort eilte er wieder hinaus, und zwei Minuten später klang seine fröhliche volltönende Stimme an Mariens Ohr, als er mit der Gräfin Hainried, einer üppigen und sehr koketten Dame, an der offenen Thür vorüberging.

Von einer Empfindung tiefschmerzlicher Bitterkeit erfüllt, hatte Marie die über dem Fächer gefalteten Hände in den Schoß sinken lassen. All ihre Herzensheiterkeit und die selige, erwartungsvolle Stimmung, die noch soeben ihre weichen Wangen hatte erglühen lassen, waren unwiederbringlich dahin. Nicht Eifersucht war es, was sich in ihrem Innern regte und ihr die Thränen heiß in die Augen drängte, sondern ein Gefühl herber Enttäuschung und Ernüchterung, wie es nach Augenblicken froher Erregung und hochgemuther Zuversicht sich mit doppelter Grausamkeit in die Seele bohrt.

„Wie? Du bist noch hier, Marie?“ tönte es da plötzlich an ihrer Seite. „Willst Du mir gestatten, Dich in den Saal zu führen, und willst Du es mit einem Tänzer von sehr zweifelhafter Geschicklichkeit versuchen?“

Ihr Vetter Lothar war es, der im schlichten schwarzen Ballanzuge und nicht sorgfältiger frisirt als an jedem anderen Tage vor ihr stand. Sein ernster Blick war so forschend und zugleich theilnahmsvoll auf sie gerichtet, daß sie im Augenblick des ersten Ueberraschtseins die Empfindung hatte, er müßte bis auf den Grund ihrer Seele geschaut und ihre geheimsten Gedanken gelesen haben. Mit den Fingerspitzen hastig über Stirn und Augen streichend, als gelte es, die Spuren wirklicher Thränen zu verwischen, richtete sie sich auf.

„Ich – ich wünschte eine kurze Zeit allein zu bleiben,“ sagte sie mit einer Unwahrhaftigkeit, welche sie trotz der Geringfügigkeit schwere Ueberwindung kostete, „denn ich befand mich nicht ganz wohl.“

„Du siehst wirklich angegriffen aus. Darf ich Dir ein Glas Wein oder ein anderes Belebungsmittel besorgen?“

Je tiefer Marie den Gegensatz zwischen seiner herzlichen Theilnahme und der selbstsüchtigen Gleichgültigkeit Engelberts empfand, desto übermächtiger quoll die schmerzliche Bitterkeit in ihrem Innern auf. „Nein!“ erwiderte sie mit einer Schroffheit, die nicht beabsichtigt, sondern nur ein natürlicher Ausfluß ihrer Stimmung war. „Es war ganz unbedeutend und ist schon wieder vollständig vorüber. Ich werde Dir dankbar sein, wenn Du die Güte hast, mich in den Festsaal zu führen. Weitere Opfer aber muthe ich Dir nicht zu; denn ich werde heute überhaupt nicht tanzen.“

Lothar reichte ihr seinen Arm und that, wie sie begehrte. Aber der sorgende Blick, der noch immer auf ihrem blassen Antlitz ruhte, verrieth, daß er an die vorgebliche Beseitigung ihres Unwohlseins nicht recht zu glauben vermochte. –

Der Major vom Großen Generalstab, in dessen Arm sich Cilly dem Wirbel des Tanzes überlassen hatte, war mit seinen vierundvierzig Jahren nicht mehr so ausdauernd und elastisch, daß die junge Dame nicht bald ein menschliches Rühren gefühlt und ihm, indem sie selber Athemlosigkeit erheuchelte, seine Freiheit wiedergegeben hätte. Er führte sie zu einer der kleinen Ruhebänke, die an den Wänden entlang standen, und er machte ein etwas verwundertes Gesicht, als nach einer Pause von weniger als einer Minute das Töchterchen des Generals schon wieder Athem genug hatte, um mit einem blutjungen, unbärtigen Sekondlieutenant, dem die Fähnrichstage noch sehr frisch in der Erinnerung sein mußten, davon zu fliegen.

Der jugendliche Krieger hatte augenscheinlich bis dahin wenig Gelegenheit gehabt, sich in der schwierigen Kunst des Verbergens seiner geheimsten Gedanken zu üben; denn noch ehe er in dem verzweifelten Bemühen, eine nicht gar zu alltägliche Unterhaltung anzuknüpfen, mehr als zwanzig Worte über die neuesten Nachrichten aus Deutsch-Ostafrika hervorgestottert hatte, wußte Cilly mit unumstößlicher Gewißheit, daß er bis über die Ohren in ihre glänzenden Augen und in ihre rothen Lippen verliebt sei. Und während sie sich sonst über die stumme Anbetung solcher halbreifen und unbeholfenen Helden unbarmherzig lustig zu machen pflegte, gefiel sie sich diesmal darin, den armen Menschen durch allerlei kleine Koketterien vollends in lichterloh aufschlagende Flammen zu setzen. Als sie, vom Tanze sich erholend, durch den Saal schritten, hatte er zu seinem eigenen Erstaunen bereits die beispiellose Kühnheit, ihren Arm ganz leise an sich zu drücken, und mitten in dem ernsthaftesten Gespräch über den Negeraufstand und den Sultan von Sansibar sagte er plötzlich mit einem gar nicht mehr mißzuverstehenden Seufzer:

Auch ich hatte mich für die Schutztruppe des Reiches nach Ostafrika gemeldet, denn diesen unendlichen, thatenlosen Frieden hier in Europa vermag kein rechter Soldat zu ertragen. Aber man hatte bereits alle Stellen besetzt, als mein Gesuch eintraf. Ich war zu spät gekommen! Zu spät – das ist von jeher das Unglück meines Lebens gewesen! Es ist, als ob in dieser Beziehung ein unerbittliches Verhängniß über mir waltete. Möchte ich doch fast darauf schwören, daß auch gnädiges Fräulein bereits über den ersten Walzer verfügt haben!“

Ob es in Anerkennung dieses wahrhaft geistreichen Gedankensprunges aus dem äquatorialen Afrika in den Festsaal des Generals von Brenckendorf, oder ob es aus irgend einer andern, geheimnißvollen Ursache geschah – genug, Cilly strahlte den weltschmerzlich angehauchten Jüngling mit einem verwirrenden Blick ihrer dunkeln Gluthaugen an und erwiderte aufmunternd:

„Vorläufige Verfügungen lassen sich rückgängig machen. Einen thatenlustigen Mann sollten solche Hindernisse nicht schrecken.“

Der Lieutenant sah etwas betroffen aus. Vielleicht dämmerte ihm trotz eines nicht zu gering bemessenen Selbstbewußtsein eine dunkle Ahnung auf, daß sie sich möglicherweise über ihn lustig machen könnte.

„Wenn ich gnädiges Fräulein recht verstehe –“ stammelte er . . . „es würde mich natürlich unaussprechlich glücklich machen –“

„Nun wohl!“ sagte sie, ihm die Tanzkarte entgegen haltend. „Jeder ist der Herr seines Schicksals!“

Er hatte den Bleistift in der Hand, aber er las den Namen des Prinzen Lamoral an der Stelle, die er vermessen genug für sich selbst begehrte, und die Verlegenheit machte ihn erröthen wie ein junges Mädchen.

„Ach – gnädiges Fräulein beschämen mich durch so viel Güte – aber ich weiß nicht – es ist vielleicht nicht schicklich – so ohne die Erlaubniß eines Kameraden –“

„Ach, wie ängstlich Sie sind!“ lachte Cilly. „Und Sie wollten gegen Sklavenjäger und Menschenfresser kämpfen! – Da – nun brauchen Sie niemand mehr um Erlaubniß zu fragen!“ Sie hatte einen so dicken Strich über den Namen des Prinzen gemacht, daß die Spitze des Bleistifts abgebrochen war und daß der Lieutenant sich seines eigenen bedienen mußte, als er jetzt mit

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