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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

stolze, hoch zum Himmel aufragende Koppe, das Hohe Rad, die Schneegruben – und zu unseren Füßen den schreckhaft gähnenden Abgrund, in dem Kunigundens waghalsige Freier ihr elendes Ende gefunden haben. Ein biederer Schuster hat darauf einen Vierzeiler gedichtet, welcher lautet:

„Das Weibsbild kunnde
Uf Knie’n mich bitten –
Ich wär’ mit da Rittern
Ni mitte geritten.“

Es war bereits dämmerig geworden; feuchte Schleier umwoben Thal und Gebirg, als ich wieder ins Dorf hinabschritt. In den alten, trübsinnig dreinschauenden Nadelbäumen flüsterte es seltsam, und es war schier, als ob der ruhelose Geist des stolzen, grausamen Edelfräuleins, das einst da oben sich gesonnt im Glanze seiner Schönheit, leise an mir vorüberschwebe. –

*  *  *

Der Morgen ist thaufrisch und sonnig. Ein fröhliches Wanderlied klingt mir durch den Sinn, indem ich auf Petersdorf, die stattliche, obstgesegnete, industriereiche Ortschaft, zumarschire. Nachdem ich dieselbe erreicht, muß ich mehrmals den Zacken überschreiten, in dessen Bett sich noch immer die Spuren der letzten Ueberschwemmung zeigen. Am Ende des Dorfes nimmt die Landschaft ein völlig anderes Gepräge an; eine kühle, erfrischende Waldluft weht mir aus der engen Felsenschlucht, die ich betreten habe, entgegen. Langsam, in gleichmäßiger Steigung, geht’s bergan. Der üppigste Pflanzenwuchs gedeiht in dem feuchten Grunde; Birken, Buchen, Ahornbäume und Fichten, nur hin und wieder dem nackten Stein Raum lassend, sich vorzudrängen, heben ihre Gipfel empor; unzählige Wasserstürze schäumen an mir vorüber. Hier ist ein wahres Wunderland für Maler, jeder Schritt bietet ein neues, herrliches Bild. Aber die Krone von allem ist der Kochelfall, der einige hundert Schritt von der Straße in tiefster Waldeinsamkeit von hundertjährigen Bäumen beschattet, mit seinem goldbraunen Wasser in eine rief eingewaschene Felsenrinne hinabstürzt.

Wenn man dann auf die Straße zurückkehrt und noch eine halbe Stunde am Zacken aufwärts gewandert ist, so erweitert sich mit einem Male die dunkle Schlucht, und Schreiberhau, die bestrickend schöne Sommerfrische des Riesengebirges, liegt vor unsern Augen. In bunter Abwechslung grüßen uns freundliche Häuser und prachtvolle, vornehme Villen, auf blumenreichen Wiesen verstreut, über denen der Reifträger emporsteigt und die Felsenrippen der Schneegruben sich erheben.

In kurzer Zeit gelangt man nach der Josephinenhütte, einer weitberühmten Glashütte, die vorzugsweise Luxusglaswaren erzeugt, und von da geleitet uns ein wundervoller Waldweg nach dem Zackenfalle, der 26 Meter hoch, freilich nicht ohne künstliche Spannung wie alle Wasserstürze des Riesengebirges, in die Tiefe tost. An granitenen Wänden, wo üppiges Moos, Lattichblätter und Farnkräuter wuchern, über sich hochanstrebende Tannen und Fichten, stürzt er in blendender, diamantenstäubender Pracht hinab in sein nächtliches Bett, in Schaum und Gestrudel.

Vom Wassersturz des Zacken führt der Weg allmählich auf den Kamm des Gebirges, das wie eine granitene Mauer Schlesien, mein schönes Heimathland, von Böhmen trennt. Der Wald wird, je höher man steigt, immer niedriger, die Fichten schrumpfen mehr und mehr zusammen und das Gebiet des Knieholzes, der Zwergkiefer, die ohne eigentlichen Stamm buschartig ihre Aeste an der Bodenfläche ausstreckt, beginnt. Auf meiner Wanderung begegne ich der ersten „Baude“, der „Neuen Schlesichen Baude“. So werden die auf Stein

ruhenden Blockhäuser genannt, in welchen die gutmüthigen, treuherzigen Gebirgsbewohner hausen und auch der müde Bergsteiger labende Erfrischung, Atzung und Herberge findet. Diese Bauden, die ohne Ausnahme von einer üppigen, sorgfältig gepflegten Wiese, dem „Garten“, umgeben sind, werden in Sommer- und Winterbauden geschieden, d. h. in solche, deren Insassen mit ihrem Vieh im Winter in die Thäler ziehen, und in solche, die das ganze Jahr bewohnt bleiben. Früher ließen sie manches, oder sagen wir lieber: vieles zu wünschen übrig; die fortschreitende Zeit hat

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_340.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)