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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

und anderes ausgeführt. Das Ganze bot ein sehr lebensvolles Bild dar und zog die Gäste mehr und mehr an. Hier und da versuchten einige derselben ihre eigene Kunst beim Speerwerfen, Bogenschießen etc., doch ließen sie sehr bald von dieser ungewohnten Thätigkeit ab, da ihnen die Jugend doch zu weit überlegen war. So ging das heitere Treiben etwa 1 1/2 Stunden weiter. In mehreren Kreisen der gelehrten Herren hörte man die Frage erörtern, wie diese Spiele wohl am besten auch auf andere Anstalten übertragen werden könnten, und hielt man es für erwünscht, daß in Görlitz im nächsten Frühjahr vielleicht achttägige Kurse für auswärtige Lehrer eingerichtet werden möchten.“

So haben die Görlitzer Spiele ihre Prüfung vor einem maßgebenden Kreise glänzend bestanden. Doch lernen wir sie näher kennen, verfolgen wir die kurze, aber lehrreiche Entwickelungsgeschichte derselben: Im Jahre 1882 erfolgte der bekannte preußische Ministerial-Erlaß, in welchem der Grundsatz aufgestellt wurde, daß die Schule auch der leiblichen Entwicklung ihrer Zöglinge mehr Fürsorge zuwenden sollte, und dieser Erlaß veranlaßte den Landtagsabgeordneten von Schenckendorff, mit dem Gymnasialdirektor Dr. Eitner in Görlitz in Verbindung zu treten, um zu erwägen, ob es nicht möglich sein würde, die Jugendspiele mit Hilfe des in Görlitz bereits bestehenden Vereins für Knabenhandarbeit ins Leben zu rufen. Der Vorschlag fand Beifall, und es wurde beschlossen, zunächst mit den Schülern des Gymnasiums den Anfang zu machen. Dieselben sollten an zwei schulfreien Nachmittagen unter Leitung des Turnlehrers Jordan sowie einiger jüngerer Lehrer der Anstalt in zwei getrennten Abtheilungen die Spiele lernen und üben. Den unteren Klassen bis Untertertia einschließlich wurde seitens der städtischen Behörden ein geeigneter Platz vor der Musikhalle an der Promenade zugewiesen, den oberen der große, geräumige Turnplatz. Mehr zu thun gestatteten für den Anfang die durch freiwillige Beiträge gesammelten Mittel nicht, denn es mußte nicht nur das nothwendige Spielgeräth beschafft, sondern auch das beaufsichtigende Lehrerpersonal angemessen besoldet werden.

Wie nahm nun die Gymnasialsjugend diese Neuerung auf? Ein Zwang bestand nicht; es durfte kommen, wer eben wollte. Die Sexta und Quinta erschienen von Anfang an in großer Zahl auf dem Spielplatze; bei den anderen Klassen zeigte sich aber bereits die Macht der grundfalschen Ansichten, welche unsere Jugend beherrschen. Die Quartaner schämten sich bereits, so öffentlich zu spielen, und erst nach und nach legten sie die falsche Scham ab, die bei den Untertertianern noch in höherem Maße zur Geltung kam. Die Schüler der oberen Klassen waren vollends von dieser Scheu noch mehr eingenommen und lernten diese erst aus dem verborgenen, den Augen neugieriger Zuschauer entzogenen Platze ablegen. So ist unsere Jugend beschaffen, sie schämt sich, zu spielen!

Die Leiter wählten unter der großen Zahl der Spiele die zweckmäßigsten aus, die Bewegungsspiele, in welchen die Jugend sich nicht nur fröhlich austummeln, sondern auch ihren Körper stärken, Anmuth und Gewandtheit lernen kann, in denen endlich auch der erfrischende Einfluß aus Geist und Gemüth nicht fehlt. Der Mützendieb, Geier und Henne, Drittenabschlagen, Stehball, schwarzer Mann, Jäger und Wild, Schlagball, Urbär und Barlauf - das waren die Lieblingsspiele der jüngeren Abtheilung, während die oberen Klassen sich für Fuß-, Schleuder-, Sau- und Treibball, vor allem aber ebenfalls für Barlauf erklärten.

Für wie viele, welche in allen Regeln des Biercomments aufs beste bewandert sind, bilden diese Namen zum großen Theil weiter nichts als einen leeren Wortklang hinter dem sich für sie kein anschauliches Bild verbirgt. Die Förderer des Jugendspiels in Deutschland können das an der Menge der an sie gelangenden Anfragen beurtheilen. Freilich, wir besitzen eine stattliche Litteratur über Jugendspiele. Dr. Eitner empfiehlt allein sieben Bücher, die bis auf eines in den Jahren 1880 bis 1883 erschienen sind[1] und die jedem reichliche Belehrung bieten; aber es genügt nicht, Jugendspiele zu drucken, man muß sie vor allem auf dem Spielplan ausführen.

Der Sommer 1883 ging vorüber und der Görlitzer Verein konnte mit Freuden wahrnehmen, daß das Neue sich eingebürgert hatte und in der Stimmung der Jugend ein Umschlag zum bessern erfolgt war. Die begeistertsten Anhänger, die auch die geübtesten waren, wurden daher auch im Winter zum Bogenschießen und Speerwerfen nach schwedischem Muster in dem großen Turnsaale eingeladen. Die ernste Mühe der Leiter der Spiele fand auch anderweitig Anerkennung. Der Kommunallandtag der preußischen Oberlausitz gewährte dem Verein eine Unterstützung von 500 und die Behörde der Stadt eine solche von 180 Mark.

Der Sommer 1884 vereinigte bereits eine größere Anzahl von Schülern auf den Spielplätzen, und nach englischem Vorbilde wurden auch neue Spiele eingeführt: der Fuß- oder Thorball für die kräftigeren und das Tambourinspiel für die Schwächeren. In diesem Jahre konnte auch der Verein am 13. September bereits ein öffentliches Spielfest veranstalten, das den Charakter eines wahren Volksfestes annahm. Das Eis war gebrochen; die Theilnahme an der Sache wuchs, und nun gewährte die Stadt eine Beihilfe von 1000 Mark und die Stände wieder eine von 500 Mark, und am Sedantag 1885 spielte die Gymnasialjugend zur Feier des Festes angesichts einer Zuschauermenge von etwa 6000 Personen.

Das Gymnasium war für die Bewegungsspiele gewonnen; nun machte der Verein im Jahre 1886 einen weiteren Schritt vorwärts, indem er auch die Volksschüler an den Spielen theilnehmen ließ, wobei zunächst nur die beiden ersten Knabenklassen herangezogen wurden, die aber 1000 bis 1100 Schüler enthielten; auch hier war die Betheiligung zwanglos, und es erschienen etwa 250 Knaben auf dem Spielplatz. Nichts kennzeichnet den Einfluß dieser Neuerung auf das Gemüth der Schüler besser als folgende Bemerkung Dr.Eitners: „Die Lust und Liebe zum Spiel wuchs bald auch bei diesen Knaben, und oft konnte man aus Straßen und Plätzen spielende Kinder beobachten, die sich nach Herzenslust desselben freuten, während sie früher, nicht wissend, was sie unternehmen sollten, oft genug auf Unfug verfielen und den Vorübergehenden lästig wurden. Konnte doch schon am Ende des ersten Halbjahres als erfreuliche Thatsache verzeichnet werden, daß nach Mittheilung des Stadtschulinspektors, Herrn Heumann, während der letzten großen Ferien der Polizei keine einzige Ungehörigkeit der Volksschüler - seit vielen Jahren das erste Mal - bekannt geworden war. Wir durften hierbei überzeugt sein, daß das Jugendspiel, wenn auch nicht alles, so doch vieles zu dieser Hebung der guten Sitte beigetragen hatte.“ - Gegenwärtig nehmen an diesen Spielen gegen 240 Gymnasiasten und etwa 450 Volksschüler theil; die Höhere Bürgerschule in Görlitz konnte zur Betheiliguug noch nicht herangezogen werden.

Es ist dringend zu wünschen, daß der Vorgang des Görlitzer Vereins Nachahmung findet, und wer sich näher darüber unterrichten will, der kann eine ausführliche Beschreibung der Görlitzer Jugendspiele aus der Feder Dr. Eitners durch die Ottomar Bierlingsche Buchhandlung in Görlitz kostenfrei gegen die Einsendung von 10 Pfennig Porto beziehen.

Es dürfte noch einige andere Städte in Deutschland geben, in denen Jugendspiele geübt werden, sie sind z. B. schon seit dem Jahre 1876 am Gymnasium in Braunschweig vorgeschrieben, aber diese wenigen Einrichtungen sind eben nur seltene Ausnahmen.

  1. Es sind dies: Jacob, „Deutschlands spielende Jugend“. Leipzig, Kummer, - Spiele von Guths-Muths. Herausgegeben von Schettler. Hof, Grau u. Komp. - Ambros, „Spielbuch“. Wien, Pichlers Wwe. u. Sohn. - Kloß, „Das Turnen im Spiel“. Dresden, Schünfeld. - Krause, „Hinaus zum Spiel!“ Berlin, Plahn. - Kohlrausch und Marten, „Turnspiele nebst Anleitung zu Wettkämpfen und Turnfahrten“. Hannover, R. Meyer. - Kupfermann, „Turnunterricht und Jugendspiel“. Breslau, Hirt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_220.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)