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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

aufgeben und von Zinsen leben können. – Das war das Endergebniß einer grüblerischen Stunde der trotz aller Bescheidenheit des Auftretens kecken und kühnen Marietta; die Sache erschien der an Aufsehen erregende Wirkungen gewöhnten Straßensängerin durchaus nicht so sehr absonderlich und ungewöhnlich, und wie der Entschluß in ihr reif und klar geworden war, so handelte sie auch sofort.

Sie suchte ein sorgfältig versteckt gehaltenes Büchelchen hervor, ließ sich von ihrem Schuhflickerwirth die darin verzeichneten Summen zusammenrechnen und bekam von diesem bestätigt, was sie allerdings sehr gut im Gedächtniß hatte, daß sie neunhundertdreißig Lire erspart hätte, die felsensicher auf der Nationalbank lägen.

Marietta hatte unbeschadet ihres „Küstlerthums“ einen echt italienischen Geschäftssinn, sie ging zuerst zu einer Base, die eine gute Stimme und etwas Geld hatte, auch noch leidlich jung war, und bot dieser ihren Stand sammt Tisch und Guitarre zum Kauf an. Die Base ging mit Freuden auf dies vortheilhafte Geschäft ein, und schon am nächsten Tage sah man an der Ecke von San Ferdinando statt Mariettas stattlicher, rundlicher Erscheinung an dem bekannten Tische mit der allbekannten Guitarre am grünen Bande eine magere, sehr viel gelblichere Person, die aus Leibeskräften sang. Marietta aber feilschte bei der Witwe eines kürzlich verstorbenen Carozellakutschers hartnäckig und zäh um ein mageres Pferdchen und eine schön roth angestrichene Carozella mit einem neuen Binsenteppich am Boden und zwei großen hellen Laternen unter dem Kutscherbock. Sie gelangte glücklich in den Besitz dieser kostbaren Güter um den Preis von siebenhundert Lire.

Nachdem dies Geschäft beendet war, begab sie sich nach Melito, einem Oertchen bei Neapel, von wo ein Omnibus nach Neapel ging, setzte sich oben neben den Kutscher und bat diesen, sie doch für das Passagiergeld täglich das Fahren zu lehren. Der faßte die Sache als einen Spaß auf, der noch Geld einbrachte, er willigte ein, und so fuhr Marietta achtundzwanzigmal vier Stunden und fühlte sich nach Verfluß dieser Lehrzeit als vollkommen sicherer und ausgebildeter Kutscher.

Eines Tages hielt sie denn auch in der Nähe des Hafens mit ihrem Wägelchen, nahm darauf den Platz als Kutscher ein und wartete auf Fahrgäste. – –

Es war ihr doch da oben etwas seltsam bang und beklommen zu Muth, als sie, einen lackirten schwarzen Hut auf den krausen Haaren und die Peitsche in der Hand, in das tobende eilende Straßenleben, der Fahrgäste gewärtig, hinabsah.

Sie saß noch keine zehn Minuten, da hatte sie nicht nur die Aufmerksamkeit von einigen hundert Vorübergehenden, die stehen blieben, sondern auch die viel verhängnißvollere der Polizei erregt.

Zwei Stadtsergeanten mit großen Dreimastern auf dem Kopfe, zwei Munizipalpolizisten mit grauen Mänteln und Käppis ohne Nummern und zwei Straßenwächter in schwarzem Waffenrock und Käppis mit Nummern, also sechs Mann der öffentlichen Ordnung standen denn plötzlich vor ihrer Carozella und legten die Hände auf sie selbst, den Wagen und das Thier.

„Wo haben Sie Ihren Erlaubuißschein?“ hieß es.

Marietta hatte keinen; davon hatte sie nichts gewußt. – „Der Wagen hat ja eine Nummer, die Laternen sind geputzt und in Richtigkeit!“ vertheidigte sie sich.

„Sie haben also keinen Schein?“ frugen die Gestrengen.

„Nein!“

„So folgen Sie uns zum Officio centrale, zur Hauptwache!“

„Zur Wache!“ stieß ganz fahlbleich werdend Marietta aus, und vor Schreck und Angst zitterte sie, daß sie die Peitsche fallen ließ und das Pferd unruhig ward und die Ohren spitzte.

„Ja, steigen Sie herunter und geben Sie uns Pferd und Wagen!“ befahl man ihr in sehr amtlichem Tone.

Marietta brach neapolitanisch laut in Schreien und Weinen aus. Eine gewaltige Menge hatte sich jetzt um die Verhandelnden angesammelt und lärmte und lachte: ein Frauenzimmer als Carozellakutscher – das war etwas Neues, viele hatten den weiblichen Kutscher erkannt, Marietta die Sängerin als Kutscherin jetzt – das war etwas für die skandallüsternen und nach Neuigkeiten begierigen Neapolitaner, für die hunderttausend Nichtsthuer sowohl wie für die andern Bürger. Man war in hohem Grade neugierig und gespannt auf die Entwickelung der Dinge. Die Menge wuchs ins Ungeheure.

Marietta jammerte, schrie und weinte lauter und stieg nicht vom Bock; sie war ganz sinnlos vor Angst und Zorn.

Die Menge begann Partei für sie zu nehmen und den eingekeilten Polizisten wurde es schwül.

Da entstand in der Menge ein Schimpfen und Rufen, Arme erhoben sich. Hüte fielen von den Köpfen, es wurde hin- und hergeschoben. Jetzt sah man einen jungen Mann gewaltsam durch die Menge sich Bahn machen, er drang rücksichtslos keck und geschickt vor und nun stand er am Wagen bei den Polizisten – es war ein netter, aber ärmlich gekleideter Mensch, dem man es ansah, daß es ihm nicht besonders gut ging.

„Woran fehlt es?“ frug er athemlos. „Sie hat keine Genehmigung?“

„Ja!“

„Die habe ich – aber keinen Wagen, und ich übernehme den Wagen,“ ließ der junge Mann mit kräftiger Stimme verlauten.

„Darf ich?“ rief er zu Marietta auf den Bock hinauf und übergab hierbei einem der Polizisten ein ziemlich großes, nicht sehr sauberes Papier, das er aus seiner Rocktasche zog.

Marietta verstand vor namenloser Verwirrung gar nichts.

„Der Signore hat einen gültigen Schein und keinen Wagen und will für Sie eintreten,“ erklärte ihr der erste Sergeant, welcher im Hinblick auf die Haltung der Menge froh war, daß die Sache sich so gut zu lösen schien.

Marietta begriff noch immer nicht. „Will mich heirathen?“ frug sie, die Augen immer noch voll Thränen wie geistesabwesend.

Ein furchtbares Gelächter, das über den ganzen Platz lief, erscholl auf diese Frage.

„Das wissen wir nicht,“ erklärte jetzt der Sergeant Marietta lächelnd; „vielleicht ist der Herr auch noch so freundlich,“ fügte der Polizist mit echt neapolitanischem Witze hinzu. „Vorerst will er mit seinem Erlaubnißschein das Gefährt übernehmen, denn auch wenn Sie einen solchen hätten, Signora, dürften Sie als Frauenzimmer hier in der Stadt nicht fahren!“ belehrte der Polizeimann. „Sie nehmen an?“ frug er.

„Ja!“ antwortete mit leuchtenden Augen Marietta, ihren hübschen Retter ansehend.

Ein lustiges überlautes Gemurmel wogte über die Menschenmenge. Unzählige Evviva ertönten zum blauen Himmel, man ließ den jungen Mann, der so ritterlich und klug für die Bedrängte eingetreten war, „leben“ und wünschte ihm und der Signora Glück und freute sich über die nette Lösung des Straßendramas.

Marietta war währenddessen vom Bock gestiegen, hielt dankbar beide Hände ihres Retters, der nicht unfreundlich in das runde Gesicht mit dem krausen Haarwald und den großen schönen schwarzen Augen sah. Die Menge jubelte bei diesem Anblick, der sich ihr jetzt darbot, noch mehr.

„Meine Herrschaften,“ sprach nun der erste Sergeant zu den beiden, „Sie müssen mir doch zur Kontrollstation folgen, weil die Nummer des Wagens in den Schein eingetragen werden muß; erst dadurch wird er für diese Carozella gültig.“

„Sie geben die Carozella und das Pferd zu diesem Schein?“ richtete er seine Worte an Marietta.

Von neuem „Ja!“ und dankbar glückselige Blicke in die funkelnden Augen des schmächtigen Retters, der in seiner sehnigen Kleinheit, Gelbheit und Beweglichkeit Neapolitaner vom reinsten Wasser war.

„So, bitte, steigen Sie ein!“ forderte der Sergeant die unternehmende Exsängerin und jetzt auch Exkutscherin auf.

Und Marietta stieg in den Wagen, der Retter mit seinem Schein auf den Bock; Marietta nahm nicht so stolz wie Sonntags, aber doch ganz vergnügt und zufrieden Platz.

„Geben Sie Raum, meine Herrschaften!“ riefen die Polizisten unermüdlich in die Menschenmauern – die Menge wich endlich, und in langsamem Schritt fuhr die Carozella, kutschirt von dem Retter, begleitet von den sechs Polizisten und gefolgt von einer großen Menge Volkes, dem Munizipalplatz zu.

Die gesetzlichen Förmlichkeiten nahmen dort nicht viel Zeit in Anspruch und verliefen heiter und befriedigend für alle Theile. Marietta übergab ihr Gefährt, für das sie keinen Erlaubnißschein hatte und keinen bekommen konnte, dem netten jungen Mann, der einen Schein, aber keinen Wagen dazu hatte, und die Folge dieses Geniestreiches der muthigeu Marietta war, daß ihr Ideal sich dennoch verwirklichte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_210.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)