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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Ernst und still ist dagegen Drontheim, die Stadt des heiligen Olaf, die Krönungsstadt der norwegischen Könige. Sie sind denn auch alle hier gekrönt, die in Stockholm hofhaltenden „Unionskönige“ (Norwegen ist mit Schweden bekanntlich nur durch Personalunion verbunden), mit Ausnahme des Königs Oskar I. Der protestantische Erzbischof weigerte sich, dessen katholische Gemahlin im Dom mitzukrönen; so unterblieb die Feier überhaupt. Aber der gegenwärtige König Oskar II. ist 1873 hier gekrönt worden, und bevor dieses geschah, unternahm er, wie im vergangenen Sommer Kaiser Wilhelm II., eine Fahrt nach dem hohen Norden, bestieg das Nordkap, schnitt seinen Namenszug in einen Balken der Festung Wardöhus und wohnte einem Gottesdienst bei in der Oskarskapelle dicht an der russischen Grenze in Südvaranger.

In Drontheim beginnen die meisten Reisenden, nachdem sie von Christiania mit der Eisenbahn angekommen sind, ihre „Fahrt nach der Sonne“. Gestehen wir es nur, die meisten von ihnen denken weniger an die großen Landschaftsbilder, die ihnen der Norden darbietet, sie wollen in erster Reihe die „Mitternachtssonne“ schauen, diese wunderbare Erscheinung des höchsten Nordens, von der Tacitus in seiner „Germania“ sagt, der letzte Glanz der sinkenden Sonne erhalte sich bis zu ihrem Wiederaufgang so hell, daß er die Sterne verdunkle. In der That sind uns die Sterne schon lange verschwunden; dafür ist unser Blick um Mitternacht immer fest nach Norden gerichtet: wir wollen durchaus die Sonne selbst schauen, obwohl wir wissen, daß dieses ja erst vom Polarkreise ab möglich ist, und auch dieses nur zur Zeit des höchsten Sonnenstandes um den 21. Juni. Wer später reist, erreicht die Sonne erst in Bodö, oder in Lödingen; dann erst in Tromsö, Hammerfest oder gar erst am Nordkap. So ist es denn in der That eine Reise der Sonne nach, ähnlich dem Wunsche Fausts, die fliehende einzuholen, „ihr ew’ges Licht zu trinken“; – wir haben

„Vor uns den Tag und hinter uns die Nacht,
Den Himmel über uns und unter uns die Wellen.“

C. Saltzmann.
Nach einer Photographie von Léon Alfred Vassel in Berlin.

Und so geht es Tag und Nacht in einem fort; es verschieben sich die Tag- und Nachtzeiten; wir schlafen bei Tage und wachen in der Nacht. Zuletzt wird uns ganz traumhaft zu Muthe, als ginge es gleichsam aus der Welt hinaus. Man landet in diesem und jenem Fjorde, in den kleinen Häfen, wo die Jachten (Jägter) der Fischer und Handelsleute vor Anker liegen und die Jungen sich in den leichtbeweglichen Booten tummeln. Denn was dem Litauer sein Pferd, ist dem Nordländer sein Nachen. Es kommt vor, daß einzelne Personen in einem solchen auf den Fischfang gehen, die Lofoteninseln besuchen, vom Sturm verschlagen auf den letzten Schären landen, wo nur noch die erzdummen Lummen nisten, und schließlich nach wochenlanger Fahrt die Heimath erreichen. Die ganze Sehnsucht des Norwegers ist das Meer, nur zu oft sein Grab; aber es treibt ihn hinaus wie den Araber in die Wüste, wo ihn auch der Sturm verweht.

Der Fremde steht unter dem gleichen Zauber. Keine Feder vermag den Reiz einer Fahrt durch diese Schärenwelt zu schildern, mit dem häufigen Blick durch ein „Meerauge“ auf die offene See zur Linken, und der prächtigen Gebirgsscenerie des Festlandes zur Rechten. Wie eine Vorspiegelung der Einbildungskraft erscheinen in der Ferne die am weitesten in den Ocean vorgeschobenen Inseln Lovunnen und die Tränstavene; den Rücken des festländischen Gebirges bedeckt auf meilenlange Strecken das ungeheure „Laken“ des Svartisen. Wie die Eiszapfen von einem mit Schnee bedeckten Dach senken sich die blauen Gletscher tief hinab, bis nahe zum Spiegel des Meeres. Aber fast alles übertrifft doch das große Anschauungsbild um den Hestmand, eine Insel gerade unter dem Polarkreise, welche in der schlagenden Aehnlichkeit mit einem „Reiter“ fast gespenstisch vor unsern Blicken erscheint; der Kopf riesenhaft trotzig, der Mantel weit im Meere nachschleppend, eine etwa vierhundert Meter hohe Riesengestalt, wie es keine zweite der Art geben mag. Nach der Sage verfolgt der Reiter eine Jungfrau, und der Pfeil, welchen er nach ihr geschossen, hat den Hut ihres Bruders durchbohrt. Das muß der Reisende wissen, wenn er auf der Insel Torghättan zu der Höhle hinaufsteigt, welche wie ein Tunnel durch den ganzen Bergkopf geht.

Aber unser Boot eilt weiter, rast- und ruhelos. Da zeigt sich uns um Mitternacht in vielen Meilen Entfernung die gespenstische Inselgruppe der Lofoten, an welchen in den Wintermonaten viele tausend Fischer beschäftigt sind, den Dorsch zu fangen, denselben Fisch, den man Stockfisch, Laberdan, Bacallao, Merluzzo, auch Klippfisch und Rundfisch nennt; der, in „Voger“ (großen umschnürten Packen) verladen, ebenso die Bewohner am Mittelmeer wie die Chinesen und Brasilianer in der Fastenzeit ernährt und vielleicht einst schon von den Phöniziern abgeholt worden sein mag. Denn von wem anders als von diesen sollte Pytheas die Kunde erhalten haben, daß es hoch im Norden ein Meer gebe, das zähflüssig sei wie eine von Quallen gefüllte See? In der That gefriert das Meer hier niemals; aber in den Fjorden bilden sich bei strenger Kälte kleine Eisfladen, die, sich gegenseitig stoßend, zur Form von Quallen sich abrunden und zuletzt wohl eine Art Eisbrei bilden, durch welchen ein Boot nur mit Mühe vorwärts dringt. Einen andern Brei der Art erzeugen die ungeheuren „Schwärme“ (Stimer) der Dorsche und der Heringe, die, von Walen verfolgt und gleichsam umstellt, die sogenannten „Berge“ bilden, durch welche selbst ein großes Dampfschiff nur mit ganzer Maschinenkraft zu fahren vermag. Zahllose Raubvögel kreisen über einem solchen Getümmel und „weiden“, wie es die Edda nennt, nach Fischen, während die Wale rings ihre Wasserstrahlen in die Luft blasen. So geht es ununterbrochen weiter, Tag und Nacht.

Endlich ist die Höhe erreicht, wo die Mitternachtssonne dem Blick des Reisenden erscheinen soll. Nicht selten ist der Horizont verschleiert und der Engländer steckt sein Brennglas mißmuthig in die Tasche: es wäre doch so schön gewesen, sich von der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_179.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)