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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Eine Erscheinung.

Hinterlassene Erzählung von Fanny Lewald.
(Schluß.)


Das Häuschen, das mir Schutz bietet vor den Unbilden der Witterung in der Zeit, da ich nicht draußen im Dienst beschäftigt bin, ist gerade groß genug für mich und meine Bedürfnisse. Es enthält einen Raum zum Schlafen mit einer einfachen Bettstatt, der besten, in der ich seit lange geruht habe; eine Küche mit einem kleinen Herd, auf dem ich mir selbst die bescheidenen Vorräthe zubereite, die ich mir immer für die ganze Woche vom nahen Markt hole, eine Kammer, wo ich sie aufbewahre, und einen Bodenraum für den Holzbedarf, den mir die Eisenbahndirektion liefert. Vor dem Haus ist ein kleines Gärtchen, in dem ich einige Gemüse und Blumen züchte, und daneben ein kleiner Hügel mit einem Kruzifix darauf, wie man sie hier in der Umgegend überall findet. Für mich aber hat der Hügel mit dem Kreuz noch eine besondere Bedeutung; er erinnert mich an das Grab im Garten von Groß-Stegow, und damit er diesem noch ähnlicher werde, hab’ ich ihn mit Felssteinen und Epheu eingehegt und einen Rosenstock darauf gepflanzt, der freilich nur kümmerliche Blüthen trägt. Sobald aber in meinem Gartenbeet ein paar Blumen aufgehen, was auch selten genug geschieht, so winde ich einen Kranz daraus und lege ihn dort nieder.

Mein Dienst ist ein schwerer. Ich muß bei Tag und bei Nacht die meiner Aufsicht zugewiesene Bahnstrecke begehen und nachsehen, ob das Geleise frei und in gutem Zustande ist, „denn die Elemente hassen das Gebild aus Menschenhand“, zumal in unserer Gegend. Ich muß rechtzeitig die Signale aufstecken und die Weiche bedienen für die Züge, die sich hier kreuzen, und das Wohl vieler Menschenleben liegt in meiner Hand, in derselben Hand, deren sinnloses Wüthen einst ein Menschenleben zerstörte, das mir theurer war als das von Tausenden. Ist das nicht mehr, als ich verdiene? Ich versehe daher meinen Dienst auch mit der äußersten Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, obwohl meine Kraft nicht mehr die alte ist. Die Unruhe, das Wanderleben haben meine Gesundheit, die ja doch jetzt in meinen Mannesjahren die allerstärkste sein sollte, angegriffen. Ich empfinde oft ein Zerren in den Gliedern, ein Stechen auf der Brust; ich muß viel husten und fühle mich manchmal zum Tode erschöpft. Ein Arzt ist hier nicht in der Nähe, auch brauch’ ich keinen; die alte Kräuterfrau im Dorfe hat mir einen Thee gegeben, den ich mir selbst koche und der mir die Schmerzen lindert, so daß ich mich stets wieder aufraffen und meinem Dienst nachkommen kann.

Und doch hat mich auch hier der Versucher noch einmal umgarnt.

Hier, wo die Kurierzüge oft wegen der Kreuzung minutenlang stillhalten, kommt es häufig vor, daß die Passagiere überflüssige Gegenstände auf den Bahnkörper werfen, und darunter befinden sich manchmal auch Zeitungen. Ich pflege das alles aufzulesen und die Blätter, ohne mich weiter um ihren Inhalt zu bekümmern zum Anzünden meines Herdfeuers zu benutzen. Einmal aber, es ist noch gar nicht so lange her, warf ich doch einen Blick in solch ein Zeitungsblatt, und zwar, weil ich beim Aufheben desselben zufällig bemerkt hatte, daß es aus meiner Heimath kam. Es war eine Nummer der Amtszeitung unseres Kreises. Wer mochte sie hier mit andern hingeworfen haben, ohne eine Ahnung, daß sie einem Landsmann in die Hände geriethe? Es war doch ein seltsamer Zufall, wenn es nicht mehr als ein Zufall war!

Nachdem ich die Aufschrift erkannt hatte, konnte ich dem Drang nicht widerstehen, auch weiteres von dem Inhalt zu lesen. Ich las die erste Seite. O, wie fremd berührte mich alles, was da gedruckt stand von Staatsverträgen, Fürstenbesuchen, Volksversammlungen, von dem, was man zusammengefaßt „Politik“ nennt. Es waren große Veränderungen in meinem Vaterland, im ganzen Deutschland vor sich gegangen, von denen ich wohl hier und da ein Wort reden gehört hatte, welche die ganze Welt in Athem hielten und mich, der ich ja todt war für diese ganze Welt, jetzt so kalt ließen.

Dann las ich von Gemeindeangelegenheiten und Familienereignissen, Festen der Freude und der Trauer. Kaum hier und dort noch ein Name von bekanntem Klang, der mir auffiel, ohne daß ich eine bestimmte Erinnerung daran zu knüpfen vermocht hätte. Wie weit lag sie hinter mir, diese Welt mit ihren pomphaft feierlichen Gebräuchen, ihren künstlich zurechtgemachten Begriffen, ihren heimlichen Intriguen, ihren Schmerzen und Freuden, ihrem Hader und Gezänke um ein Nichts! Ich mußte lächeln, und schon wollt’ ich das Blatt mit den andern ins Feuer werfen, da stieß ich auf der letzten Seite, im amtlichen Anzeigetheil, auf ein Inserat mit der fettgedruckten Ueberschrift: „Aufruf an einen Verschollenen.“

So wenig bedarf es, um einen Todten, wie ich mich eben noch nicht ohne Genugthuung genannt hatte, ins Leben zurückzurufen und ihn mitten in das Getümmel, das ihm eben noch so verächtlich schien, hineinzuschleudern.

Ich las meinen Namen, nicht den, welchen ich jetzt trug, sondern den, welchen ich einst getragen hatte, den alten Namen „Klaritz“, und nun fing ich den Aufruf von vorne zu lesen an.

Er lautete, soweit er mir im Gedächtniß geblieben ist:

„Aufruf an einen Verschollenen!

Nachdem der hochedle Herr Hubert von Klaritz, Majoratsherr auf Groß-Stegow, seinem hochseligen Herrn Vater nach kurzer Frist im Tode nachgefolgt ist, so ist von dem Mannesstamm dieses Hauses als letzter Sproß und rechtmäßiger Erbe des Majorats wie der damit verbundenen Einkünfte, Rechte und Pflichten der jüngere Bruder des Verstorbenen, Erwin von Klaritz, (hier folgten die Daten meiner Geburt, meiner Verurtheilung, Freilassung, meines Verschwindens und muthmaßlichen Todes) zu betrachten.

Da eine amtliche Bestätigung des Todes dieses Erben nicht vorliegt, auch die Leiche desselben seinerzeit nicht aufgefunden werden konnte, desgleichen sein dermaliger Aufenthaltsort dem zuständigen Gericht unbekannt ist, so ergeht an ihn, wenn er noch leben sollte, die Aufforderung, seine Rechte innerhalb einer Frist von sechzig Tagen, vom Datum dieses Aufrufs an gerechnet, bei dem Gericht persönlich oder schriftlich unter Vorlage der seine Identität bezeugenden Papiere geltend zu machen, widrigenfalls derselbe gesetzlich als todt, der direkte Mannesstamm Derer von Klaritz als erloschen erklärt würde und das Testament des Erblassers, welches den Verkauf des Besitzes unter gewissen Vorbehalten, die Theilung des Erlöses sowie des vorhandenen Barvermögens unter die von ihm aufgeführten Personen und Korporationen, insbesondere die Auszahlung eines bedeutenden Legats an das Kloster der Nonnen du sacré coeur auf Trinita de’ Monti zu Rom, wo seine im Vorjahr verstorbene Verwandte von mütterlicher Seite und einstige Braut, weiland Casimira, Edle von Gliwitzka unter dem Namen ‚Schwester Magdalena‘ seiner Zeit den Schleier genommen hat, anordnet, rechtsgültig in Kraft träte.“

Es folgte das Datum, das nur wenige Tage zurücklag, die Angabe des Orts und die nähere Bezeichnung des Gerichts, von welchem der Aufruf ausgegangen war.

Eine Weile starrte ich, keines bestimmten Gedankens fähig, auf das inhaltsschwere Blatt. Mein Vater todt und mein Bruder und Mira – – und ich der einzig Ueberlebende, der Erbe, der Herr von Groß-Stegow –, wenn ich wollte! Es war zu viel, als daß es mich nicht verwirrt und betäubt hätte.

Sollte ich sie beklagen, diese Todten, meinen Vater, der das Ziel seiner Sehnsucht erreicht hatte, mit der todten Mutter wieder vereinigt war, und den Bruder, den verkrüppelten Kranken, den diese so sehr geliebt und der nun in verklärter, vollkommener Gestalt bei ihr weilte, und Mira, die sich auf den Namen einer Büßenden getauft hatte und nun wie diese eingegangen war zum ewigen Frieden, vereinigt mit ihrem himmlischen Bräutigam und vereinigt mit den Eltern, dem Bruder in einer Gemeinschaft, die kein Haß, keine Eifersucht mehr stört? – Nein, um sie durfte ich nicht klagen!

Aber ich, der Ueberlebende, hatte ich nicht die Pflicht, ihre Gräber zu pflegen; durfte ich das dem Fremden überlassen, der das Gut kaufte und gleichgültig, mißmuthig vielleicht dem Vorbehalt des Testaments, der sich hierauf bezog, nachkam? War es nicht meine Pflicht, das Erbe meiner Väter anzutreten, die

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