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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

am Fortschicken des Dieners nicht doch etwa mit betheiligt gewesen sei. Sie mußten das alles, soweit sie überhaupt darüber aussagen konnten, verneinen.

Trotzdem trat der Staatsanwalt, der sich nun zu einer längeren Rede erhob, dafür ein, daß ich die That mit voller Ueberlegung und nach reiflicher Vorbereitung begangen habe, um den Bruder unter dem Vorwand, daß er sich durch eigene Unvorsichtigkeit, wie das ja wohl auf dem Schießstand vorkommen könne, selbst getödtet habe, zu beseitigen und mich damit in den Besitz des Majorats sowie der jenem mißgönnten Braut zu setzen. Er erwähnte in scharfsinniger Weise alles, was etwa für diese Auffassung sprechen konnte, und gab nur in zweiter Linie die Möglichkeit zu, daß ich im Affekt, d. h. unter dem Einfluß des Augenblicks gehandelt habe.

Und des Muttermords, der größten und schwersten Schuld, deren mein Gewissen mich anklagte, ihrer erwähnte er nur nebenbei. Was das Eingreifen der Mutter, so meinte er, und ihren dadurch veranlaßten Tod betreffe, so trete die Anklage in diesem Punkt der Ansicht der Vertheidigung bei, daß nämlich besagte Geschehnisse auf einen beklagenswerthen, von dem Angeklagten zwar mittelbar begünstigten, aber doch nicht bestimmt vorherzusehenden Zufall zurückzuführen seien, daß insbesondere ein Angriff auf das Leben der Mutter nicht in der bewußten Absicht des Angeklagten gelegen, der tödliche Schuß sich vielmehr unabhängig von dessen Willen entladen habe. Selbst von einer Verschuldung durch Fahrlässigkeit sei abzusehen, wohl aber verdiene diese erschütternde Folge des ersten Verbrechens von den Herren Geschworenen bei ihrer Berathung und Abstimmung als erschwerend in Betracht gezogen zu werden.

Demgemäß wurden die Fragen gestellt, die erste auf versuchten Mord, die zweite auf versuchten Todtschlag, eine dritte, die mein Vertheidiger beantragt hatte, auf Zulassung mildernder Umstände. Die Geschworenen zogen sich zurück, sie kehrten wieder und ihre Antwort lautete auf die erste Frage verneinend, auf die zweite bejahend. Die Zulassung mildernder Umstände wurde abgelehnt.

O, das Urtheil, das die Richter fällten, war milde genug, es lautete auf sieben Jahre Zuchthaus. Schwerer, viel schwerer verurtheilte mich das Gericht in meiner Brust!

Nun war auch das überstanden, mein Vertheidiger drückte mir bedauernd die Hand, er sprach etwas von Gnade; ich wollte keine Gnade. Neugierig drängte sich die Menge um mich, als ich abgeführt wurde, und noch am gleichen Abend trat ich meine Strafe an.

Sieben Jahre, Jahre blühender Mannheit, von der Welt getrennt durch Kerkermauern, in Gesellschaft von Betrügern, Dieben, Mördern – Mördern? – Ja, war denn auch nur einer darunter so schlimm wie ich? Sie alle hatten aus Noth, Eigennutz, angeborener oder anerzogener Rohheit gesündigt, aber gegen seinen Bruder hatte keiner die Waffe erhoben, seine Mutter hatte keiner getödtet. Und ich, der ich von Kindheit an nur Gutes von den Eltern genossen, ich, dessen Geist und Herz sich an den besten Lehren, den ehrwürdigsten Beispielen gebildet, ich hatte das gethan, ich allein! Mußte ich nicht dankbar sein, daß jene mich ihres Umgangs würdigten? –

Auch der Direktor des Zuchthauses war mild und gütig mit mir, viel zu mild, viel zu gütig. Er wollte mich mit Rücksicht auf die Erziehung, die ich genossen hatte, bei der Schreiberei beschäftigen. Ich dankte es ihm, aber ich wollte nichts vor den anderen voraus haben, ich verlangte nach schwerer Arbeit, die den Geist, der nicht ruhen will, übertäubt durch die Anstrengung der Glieder, jener Glieder voll strotzender Kraft und Gesundheit, in deren Besitz ich mich so stolz über den Bruder erhoben hatte. Auch diese unverdiente Linderung wurde mir zu theil, in harter Arbeit von früh bis spät durfte ich mir Stunden traumlosen Schlafs in der Nacht erkämpfen. O, was das werth ist, weiß nur der, der sich wie ich endlos lange Stunden auf dem Bett gewälzt hat, bis ihn der Schlaf nicht als der stille Tröster, sondern als der fürchterliche Traumspender umfing, der die Todten wieder aufweckt aus ihren Gräbern und sie mit gräßlichem Vorwurf in dem stieren, gläsernen Blick vor sein Lager stellt.

Meine Aufführung im Zuchthaus war, was man in der dortigen Geschäftssprache eine musterhafte nennt. Als im Spätwinter des Jahres 1868 Amnestievorschläge einverlangt wurden befand ich mich unter denen, die, natürlich ohne ihr Vorwissen, der Allerhöchsten Gnade empfohlen wurden – „der Allerhöchsten“, so nennen es die Menschen in ihrem thörichten Wahn.

Die Nachricht von meiner Freilassung wurde mir ganz unerwartet durch den Zuchthausdirektor, der mich zu sich rief, mir die bescheidene Summe dessen, was ich mir durch Arbeit erspart hatte, auszahlte, ein Zeugniß übergab und sich sogar erbot, mir behilflich zu sein, wenn ich eine Stelle suchen wolle.

Eine Stelle – der Gedanke erschreckte mich, die unerhoffte Freiheit erschien mir als eine neue Qual. Eine Stelle suchen, hier im Vaterland mit dem Zeugniß aus dem Zuchthaus, ich, mit diesem Namen, nein, das wollte, das konnte und durfte ich auch nicht, so sehr mich die Großmuth des Mannes rührte.

Etwas von dem alten Hochmuth regte sich in mir, und als sich die Pforten des Kerkers nun vor mir aufthaten und die weite freie Welt unter dem weiten freien Himmel vor mir lag, da erwachte einen Augenblick auch wieder die alte, sündhafte Leidenschaft in mir.

„Hole Dir Mira!“ rief es in mir. „Sie liebt Dich, befreie sie aus dem Kloster, Du bist stark und muthig und die Welt ist so weit!“

„Wie, Du, Du, der Mörder,“ so sprach mein Gewissen dagegen, „Du wagst es, an sie, die Reine, noch zu denken, die sich schaudernd von dem Friedensstörer abwendet? Ist’s nicht genug an dem, was geschehen? Willst Du Dein verruchtes Werk durch neue Gewaltthat krönen, mit blutiger Hand die Frucht des Muttermords pflücken?“

Und dann sprach eine dritte Stimme, eine leise, süße, rührende Stimme, die aber mächtiger war als die andern: „Wo ist Dein alter Vater? Lebt er noch oder hat Dein Verbrechen auch ihn getödtet? Verlangt Dich’s nicht, ihn noch einmal zu sehen, ihn und den Bruder und die alte Heimath, die Stätten Deiner Unschuld, Deines Glücks und Deiner Schmach? Willst Du ihm nicht zu Füßen stürzen, ihm, dessen Glück Du grausam zerstört und der Dich geliebt hat und Dir vertraute und stolz auf Dich war – seine welken Hände küssen, sie mit Deinen Thränen benetzen und mit flehendem Aufblick zu ihm die Bitte stammeln: ‚Vater, vergieb!‘?“

Die Stimme behielt recht. Aber meine Kräfte hatte ich überschätzt, die frische Luft der Freiheit war mir noch zu ungewohnt, sie wirkte zu stark auf meine an die dumpfe Kerkerluft gewöhnten Organe; das freie Licht blendete mich, der weite, von keiner Mauer begrenzte Raum machte mich schwindeln. Eine Mattigkeit befiel mich, wie ich sie im Kerker nie empfunden, taumelnd schier machte ich mich auf den Weg, wirr im Kopf, und im Herzen nur immer den einen Wunsch, die einzige brennende Sehnsucht nach dem Vater.

Es waren zu Fuß verschiedene Tagereisen von dem Ort, wo ich die Freiheit erlangt hatte, bis zu dem väterlichen Gut, und meine des Wanderns ungewohnten Glieder versagten mir oft den Dienst, und doch mußte ich eilen, denn ich fürchtete, ein Unfall könnte den alten Mann treffen, indeß ich zögerte. Dieser Gedanke, die marternde Angst, daß er sterben könnte, ehe ihn mein Auge noch einmal gesehen, ehe er mir vergeben hatte, trieben mich vorwärts, sie rissen mich empor, wenn ich erschöpft am Wege zusammengebrochen war.

Lebte er noch? Ich wußt’ es nicht und wagte auch nicht, jemand danach zu fragen aus Furcht, eine verneinende Antwort zu erhalten und auch, weil ich meinte, man müsse mir meine That an der Stirne ablesen können. Noch befand ich mich in einer mir wenig bekannten Gegend, wo auch die Leute mich wenigstens nicht von Angesicht kannten, und doch vermied ich die große Heerstraße, schlug die weniger betretenen Fuß- und Feldpfade ein und machte so manchen Umweg. In den entlegensten Dorfschenken kehrte ich nachts ein, froh wenn ich dort einen kargen Imbiß und ein dürftiges Lager auf dem Dachboden oder dem Stroh der Scheune fand, als ein reisender Handwerksbursch, für den sie mich mit meinem Bündel auf dem Rücken halten mochten. Aber je näher ich Groß-Stegow kam, desto mehr wuchs die Furcht des Erkanntwerdens, und nun floh ich alle betretenen Pfade, nährte mich kümmerlich von dem, was ich von umherziehenden Händlern erkauft hatte, verbrachte die Nacht, wenn ich sie nicht zum Wandern benützte, draußen auf dem freien Feld oder im Wald. Natürlich litt mein Aeußeres stark unter solcher Lebensweise. Die wenigen Menschen denen ich begegnete, sahen mir mißtrauisch nach. „Der

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