Seite:Die Gartenlaube (1889) 826.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

von Anfang nicht auf eine lange Erhaltung seines Lebens hoffen lassen. – Mein Vater hat ihn uns immer als eine hohe heldenhafte Gestalt, als einen edeln, großherzigen Mann geschildert, und schön und edel war auch seine Tochter, die erst zu ihm gelangen konnte, als er seinem Ende schon nahe war. Nur einige Wochen hatte sie den Hinsterbenden noch in meines Vaters Haus gepflegt, das sie nach dem Tode desselben natürlich wieder verlassen.

Aber diese Zeit hatte hingereicht, die Herzen meines Vaters und des Fräuleins in Liebe zu verbinden, und nachdem das Trauerjahr beendet, war er der schönen Lodoiska nach Dresden gefolgt, wo sie sich bei einer ihrer dort lebenden Tanten, der Gräfin Meilow, aufhielt, und bald nach meines Vaters Werbung war seine Erwählte als seine Gattin in Groß-Stegow eingezogen, von den Gutsleuten, welche sie während ihres Waltens an des Vaters Krankenbett im Schlosse verehren lernten, mit Freuden begrüßt und von dem Fürst-Bischof mit Auszeichnung aufgenommen, dem die treffliche, strenggläubige Herrin auf einem großen Besitze innerhalb seiner Diözese nur willkommen sein konnte.

Ein Jahr höchsten, ungetrübten Glückes entschwand meinen Eltern. Alles, was man unternahm, schlug auf das Erwünschteste ein. Nie hatte man reichere Ernten als in diesem gesegneten Jahre in die Scheuern gebracht. Ganz unerwartet waren unter den vortheilhaftesten Bedingungen Ankäufe zur Vergrößerung von Stegow möglich geworden, nach denen man früher vergebens getrachtet, so daß man Stegow jetzt füglich eine Herrschaft nennen konnte, und als gegen Ende des Jahres die Niederkunft meiner Mutter bevorstand, waren meine Eltern der festen Zuversicht, der Himmel, der sie seit ihrer Verbindung so durchaus begünstigt, werde ihrem Glück durch die Geburt eines Sohnes die Krone aufsetzen, für den und dessen Nachkommen Sorge zu tragen, mein Vater, der Abkömmling höriger Leute, sich von dem aristokratischen Verlangen ergriffen fühlte, seinen Besitz zu einem Majorat zu machen. Er fand für diesen Gedanken bei seiner Gattin die lebhafteste Zustimmung, und weil auch dieses Vorhaben sich nach den Wünschen des glücklichen Paares geordnet, hatte meine Mutter in vorahnender Freude oftmals den Gedanken ausgesprochen, wenn ihr der erwartete Sohn geboren würde, so solle ihm der Name Fortunat als gute Vorbedeutung mit auf den Lebensweg gegeben werden.

So kam die Zeit meiner Mutter heran, und sie ging ihr getrosten Muthes entgegen, denn selbst ein Unfall, den sie erlitten, während sie schon ihr lebendes Kind unter dem Herzen getragen, war, wie man anzunehmen hatte, ohne Nachtheil für sie vorübergegangen und man hatte auch das unter die Glücksereignisse gezählt. Meine Mutter hatte nämlich zu einer Zeit, in der es gerathen für sie gewesen wäre, nicht mehr zu Pferde zu steigen, im Vertrauen auf ihre Kraft und Gesundheit es sich nicht nehmen lassen, meinen Vater auf einem weiteren Ritte zu begleiten, der ohne irgend welchen Anstoß von statten gegangen war. Aber bei der Ankunft vor dem Schlosse war ein Fremder mit seinem großen Hunde vorübergegangen, der Hund war klaffend an dem Pferde meiner Mutter in die Höhe gesprungen, was Pferd hatte davor in dem Augenblick ihres Absteigens gescheut, sie hatte sich mit dem Reitkleide in der Sattelgabel verwickelt, war zu Boden gefallen, ehe mein Vater sie in seinen Armen auffangen konnte, und so eine kleine Strecke weit geschleift worden. Jedoch hatte sie nichts als eine leichte Beschädigung am Beine dadurch erlitten, die durch ein paar Tage der Ruhe geheilt worden war, und die beiden zu Rathe gezogenen Aerzte hatten keine weitere Befürchtung daran knüpfen zu müssen geglaubt.

Alles war in Ordnung gegangen, aber in der entscheidenden Stunde zeigte es sich, daß man sich in den guten Erwartungen doch getäuscht. Die Geburt war schwer, meine Mutter schwebte dabei zwischen Tod und Leben, und als das Kind endlich den Tag erblickte, war es freilich der ersehnte Knabe und ein kräftiges Kind, aber das eine seiner Beine war verkrümmt, in der Ausbildung zurückgeblieben und beträchtlich kürzer als das andere. Auch das kleine Gesicht hatte durch den unglücklichen Fall gelitten, die Nase war an der Stirn auffallend eingedrückt, kurz der Knabe, von zwei schönen Eltern stammend, war entschieden unschön.

Mein Vater war erschüttert, und man hatte es in dem Augenblicke zu segnen gehabt, daß die Schwäche meiner Mutter den Wärterinnen Zeit ließ, das Kind in Tücher zu hüllen, so daß ihr die Mißgestaltung des Unterkörpers zunächst verborgen bleiben konnte; aber schon der nämliche Abend ließ sie das Unglück erkennen und wehklagend rief sie: „Fortunat! Fortunat! Du hast kein Glück! und ich, ich habe Dein Unglück verschuldet! – Du hattest mich gewarnt! Vergieb mir!“ flehte sie meinen Vater an. „Dein erster Sohn – der Majoratsherr von Stegow – ein Krüppel – ein Jammerkind! Nie wieder werde ich eine frohe Stunde haben, ich, die Unglück gebracht über Dich und unser Kind!“

Man hatte Mühe, sie zu beruhigen, hatte an ihre Erhaltung zu denken. Der Neugeborene hatte das Blut der beiden gesunden Geschlechter in seinen Adern. Meiner Mutter Gesundheit stellte sich wieder her, aber ihr strahlendes Lächeln kehrte nicht wieder in ihr Antlitz zurück und sie wurde von dem Gedanken nicht frei, daß sie die Zerstörerin des Glückes sei, das bis dahin dem Geschlecht der Klaritz so hold gewesen war.

Wer hätte damals ahnen können, wie unendlich schwereres Unglück über dasselbe gebracht werden sollte durch mich, der dies heute niederschreibt, mit dem lastenden Bewußtsein, daß er durch alle Buße nicht genug gethan hat für seine Sünde, sein Verbrechen. – Aber weiter!

Den Knaben Fortunat zu taufen, davon war nun nicht mehr die Rede. Er erhielt den alten Klaritzschen Familiennamen Hubertus, und daß die Mutter ihn selber nährte, daß sie ganz und ausschließlich sich seiner Pflege widmete, war für sie selbstverständlich. Der Fanatismus, der den Polen im Blute steckt, warf sich bei ihr auf die Mutterliebe für den Sohn, dessen Unglück sie sich allerdings zuschreiben konnte, da, wie gesagt, der Vater ihr nachdrücklich und bittend von jenem unseligen Ritte abgerathen hatte.

Sobald man daran denken konnte, wurde mit dem Kinde eine Reise nach Berlin unternommen, um die dortigen Aerzte zu befragen, ob für Huberts Gebrechen Abhilfe zu finden sei. Aber sie wußten keinen Rath, und meine Mutter suchte Trost in dem Gedanken, daß es nun ihre Aufgabe sei, sich ganz ihrem Sohne hinzugeben und sein Leben zu beglücken, soweit es in ihre Macht gegeben sei.

Wie ein Schatten war es herniedergefallen auf das Glück meines Vaters. Die schöne, fröhliche Gemeinsamkeit, in welcher die Eltern bis dahin gelebt, hatte zu leiden unter der Unzertrennlichkeit, mit welcher die Mutter sich an den Knaben band. Sie war eine leidenschaftliche und kecke Reiterin gewesen; jetzt hatte sie es sich als Buße auferlegt, kein Pferd mehr zu besteigen, da für Hubert dies alle Zeit eine Unmöglichkeit bleiben mußte. Von den Besuchen in der Nachbarschaft, die man sonst ebenso häufig gemacht, als man Gäste im Hause gehabt, hielt die junge Frau sich zurück, wenn sie den Knaben nicht mit sich nehmen konnte, oder man eine zu späte Rückkehr mit ihm zu befürchten hatte; und als mein Vater anfing, ihr diese Lebensführung als eine Uebertreibung und eine Beeinträchtigung für ihn und seine Ansprüche zum Vorwurf zu machen, entgegnete sie ihm damit, daß sie ihn mitleidlos für Hubert nannte. Wie dann einmal wieder bei einem solchen Anlaß ein Wort das andere gab, brach die Mutter, gegen ihre Gewohnheit heftig werdend, in den Ausruf aus: „Ich glaube, Du gönnst dem Kinde, mit echt männlicher Selbstsucht, meine Liebe nicht. Du bist eifersüchtig auf den Armen, und würdest ihn, wenn er uns entrissen würde, nicht tief betrauern, weil er nicht der Majoratsherr von Groß-Stegow ist, den Du, den wir erhofft. Aber ist das seine oder meine Schuld?“

Die Bitterkeit in dem Tone seiner Gattin reizte meinen Vater. Es war der erste wirkliche Zwiespalt in ihrem Ehestand, und weiter von seinem Zorne fortgetrieben, als er es beabsichtigte, stieß er die Worte hervor: „Ich bin nicht so egoistisch wie Du, ein unglückliches Kind zum Gegenstande meiner Buße und Selbsterhebung machen und darüber alle andere Liebe aus meinem Herzen bannen zu wollen – und daß ich, in der Stunde seiner Geburt, als ich sah, daß er ein Krüppel bleiben werde, seinen Verlust als einen unersetzlichen beklagt haben würde, das zu leugnen bin ich nicht der Mann.“

Beide waren sie weiter gegangen als sie gewollt, aber eben im Schrecken darüber stieg die alte Liebe hell und mächtig in ihnen auf. Sie lagen einander in den Armen, alles war wieder klar und rein zwischen ihnen. Sie gelobten sich einander förmlich aufs neue an. Die Mutter lernte es, die Ansprüche, die ihr Mann an sie zu machen hatte, mit ihrer Vorsorge für den Sohn zu vereinen, und es ist meine Mutter selbst gewesen, die mir einmal in einer aufgeschlossenen Stunde von diesem einzigen Zwist in ihrer Ehe gesprochen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 826. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_826.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)