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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Hast Du einen Wunsch, lieber Vater? – Sind Deine Schmerzen heftiger geworden, und soll ich Dir das Pulver geben?“

„Nein, mein Kind!“ erwiderte er leise, und eine Bewegung gleich einem flüchtigen Lächeln ging über sein Gesicht, „aber ich möchte Dich bitten – das heißt, wenn es Dich nicht stört – mir etwas vorzuspielen – nur eine Kleinigkeit – einige wenige Accorde!“

Sie war schon aufgestanden und an das Klavier getreten. Es war ein schönes, reich gearbeitetes Instrument, der einzige wirklich werthvolle Gegenstand im Zimmer. Sie nahm keines von den Notenheften, welche neben ihr auf dem Ständer lagen, sondern griff ohne Zögern und Ueberlegen in die Tasten.

Ihr Spiel zeugte von einer mehr als gewöhnlichen Fertigkeit, von tiefem Verständniß und feiner musikalischer Empfindung, und der süße bestrickende Wohllaut der sehnsüchtig klagenden Weise konnte kaum inniger und schöner zum Ausdruck gelangen.

„Ich danke Dir, Astrid,“ hauchte der Kranke, als sie geendet hatte. „Du weißt wohl, wie es mich erfreut, etwas von ihm zu hören, und dies ist sicherlich das Schönste, was er geschaffen hat. Aber wo er nur bleibt – wo er nur bleibt! Er muß Deinen Brief doch erhalten haben – oder glaubst Du, daß er noch nicht in seinen Händen ist?“

Die zarten Wangen des jungen Mädchens mit dem nordischen Rufnamen färbten sich mit einem lebhafteren Roth und sie schaute angelegentlich auf die Spitzen ihrer Füßchen, während sie erwiderte:

„Gerhard wird kommen, lieber Vater, – er wird ganz gewiß kommen, wenn er hört, daß Du krank bist!“

„Das hoffe ich auch, Astrid! Er hat mir’s oft versichert, daß ich mich auf ihn verlassen könne wie auf einen eigenen Sohn – damals, als er seine ersten Erfolge hatte und als er bescheiden genug war, mir zuzuschreiben, was er einzig seinem Talent verdankt. Aber es sind Jahre seitdem vergangen, und es ist so vieles anders geworden. Er ist groß und berühmt. Er hat tausend Rücksichten zu nehmen und tausend Ansprüche zu erfüllen. – Ach, Astrid, mein Kind, mir ist so bange, daß er nicht kommen wird!“

Wie mühsam unterdrücktes Schluchzen zitterte es aus seinen letzten Worten. In überströmender Zärtlichkeit kniete das junge Mädchen an seiner Seite nieder, schlang die Arme um seine Schultern und lehnte ihre weiche, jugendwarme Wange an die seinige. Sie machte keinen Versuch, ihn mit Worten zu beruhigen. War doch ihr Herz von der nämlichen Sorge erfüllt und lag doch auch ihr schon seit Stunden die peinigende Ungeduld wie ein Alp auf der Brust.

Da schlug die Glocke im Vorzimmer laut und scharf an, wie wenn sie mit großer Hast gezogen worden wäre. Mit der ganzen Behendigkeit ihrer jungen, elastischen Glieder eilte Astrid hinaus, um zu öffnen. Ein junger Mann von mehr als mittelgroßer Gestalt, das hübsche, im frischen Winterhauch geröthete Antlitz von einem blonden Vollbart umrahmt, stand auf der Schwelle. Er war in einen kostbaren Pelz gehüllt und an seiner rechten Hand, von der er bereits eilig den Handschuh abgestreift hatte, funkelte ein prächtiger Solitär.

„Grüß’ Gott, Astrid!“ rief er, indem er rasch eintrat und mit beiden Händen die Rechte des jungen Mädchens ergriff. „Was für eine Hiobspost ist es, die Du mir da geschickt hast? Mein guter Meister Bernhardi ist doch nicht ernstlich krank?“

„Ich fürchte, daß er es ist, Gerhard!“ erwiderte sie leise. „Er ist sehr schwach und der Arzt meint, daß es lange währen wird, bis er wieder hergestellt ist.“

„Und ich Undankbarer habe ihn so sträflich vernachlässigt! – Ich glaube, es ist fast ein Vierteljahr vergangen, seitdem ich Euch zum letzten Male besucht habe. Ich mache mir selber die heftigsten Vorwürfe, und was müßt Ihr nur von mir denken!“

„Gewiß nichts Böses, Gerhard! Wir wissen ja, wie groß die Anforderungen sind, welche das gesellschaftliche Leben an Dich stellt. Aber nun komm zum Vater! Er hat Dich mit Sehnsucht erwartet.“

Der andere warf seinen Pelz ab und folgte der Voranschreitenden in das zur Krankenstube umgewandelte Wohnzimmer. Er erschrak merklich, als er die Veränderung wahrnahm, welche in Bernhardis Aussehen vorgegangen war; aber er zwang sich dann doch zu einem heiteren Ton, als er ihn begrüßte und ihn mit herzlicher Wärme bat, sein langes Fernbleiben zu verzeihen.

Der Kranke aber sah nicht aus, als ob er geneigt sei, seinem schönen Besucher zu zürnen. Tief und erleichtert hatte er bei seinem Eintritt aufgeathmet und die helle Freude glänzte auf seinem Gesicht.

„Was hätten wir Dir zu vergeben?“ sagte er. „Ist es nicht freundlich genug, daß Du jetzt auf meine Bitte sogleich gekommen bist?“

„Eure Nachsicht bringt mir nur die ganze Größe meines Unrechtes zum Bewußtsein. Wer in aller Welt stände mir denn näher als Du, der mir armem und verkommenem Jungen Vater und Lehrer zugleich gewesen ist, dem ich alles verdanke, was ich erreicht habe und möglicherweise noch erreichen werde!“

Er sprach mit dem Ausdruck liebenswürdigster Frische und herzgewinnender Natürlichkeit. Für Astrid aber mußte die Wendung, welche das Gespräch der beiden Männer von vornherein zu nehmen schien, keine willkommene sein, denn sie verließ rasch und geräuschlos das Zimmer.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihr geschlossen, als Bernhardi mit einer hastigen Gebärde den Arm des jungen Mannes ergriff.

„Wir dürfen keine Minute verlieren, Gerhard! Auf Dir ruhen alle meine Hoffnungen, und Du allein kannst mir die furchtbare Sorge vom Herzen nehmen, die mir das Sterben so schwer macht.“

Gerhards lächelndes Antlitz wurde ernst. Mit warmem Druck umschloß er die feine, abgemagerte Hand des Kranken.

„Wie magst Du nur so sprechen, lieber Meister! Du wirst nicht sterben, sondern Du wirst binnen kurzem wieder hergestellt sein, und besser als bisher werde ich darüber wachen, daß Du Dich schonst und pflegst!“

In wehmüthiger Verneinung bewegte Bernhardi das Haupt.

„Es kann nichts helfen, mich darüber zu täuschen!“ sagte er. „Ich selber fühle am besten, daß es vorbei ist, und ich darf wohl kaum darüber klagen, denn meine Zeit ist um, und ich bin zu nichts Rechtem mehr zu brauchen auf der Welt. Aber das Kind – das arme Kind!“

Seine Stimme brach, und eine Welt von Liebe, Zärtlichkeit und namenloser Sorge lag in seinen letzten Worten. Gerhard drückte ihm stumm die Hand. Er fühlte, daß hier irgend eine nichtssagende Redensart sehr schlecht am Platze wäre, und er wartete still, bis jener die Kraft gefunden haben würde, weiter zu sprechen.

„Sie ist so heldenmüthig und so gut,“ kam es endlich wieder von den blassen Lippen; „sie war das Licht meines armen Lebens, denn sie hat nicht nur den Namen ihrer Mutter, sondern auch ihr herrliches Gemüth! Du hast sie ja noch gekannt, Gerhard, meine schöne, sanfte Astrid; aber Du warst ein Knabe, als wir sie begruben, und Du konntest mit Deinem kindlichen Verstande damals nicht begreifen, welchen Schatz wir in ihr verloren. Weißt Du denn auch, wie sie dazu kam, mein Weib zu werden, und welches Opfer sie mir um ihrer Liebe willen gebracht hat? Ihr hatte das Schicksal wahrlich ein besseres Los zugedacht, als sie sich’s selber wählte. Sie war die einzige Tochter eines reichen norwegischen Großkaufmannes und ihre Eltern hatten sie nach Deutschland geschickt, damit sie hier ihre Ausbildung erhalte. Ich ertheilte ihr Musikunterricht, und in der Zauberwelt der Töne, in der es keine Rangklassen giebt und keine Unterschiede zwischen arm und reich, fanden sich unsere Herzen und unsere Lippen. Es war gewiß eine sträfliche Vermessenheit, daß ich meine Augen zu ihr zu erheben wagte; aber ich war eben jung und ich wähnte, die Adlerschwingen zu fühlen, die mich zum Tempel des Ruhmes emportragen sollten. Als ich aber bei dem Vater um ihre Hand anhielt, da gerieth der reiche Mann, der auf seinen Namen und auf sein Ansehen nicht minder stolz war als irgend ein hochgeborener Herr, in einen unbändigen Zorn. Er kam auf der Stelle nach Deutschland, um seine Tochter in die Heimath zurückzuholen. Und einem so entschiedenen Widerstand gegenüber hatte ich selber nicht den Muth, Astrid noch länger an mich und an ihr gegebenes Wort zu fesseln. Was ich ihr als Ersatz zu bieten hatte für die Freuden und Annehmlichkeiten, die sie aufgab, waren doch selbst im besten Fall nur ungewisse Aussichten in eine weite, nebelhafte Ferne.

Ich wollte ihr ihre Freiheit und ihr Gelöbniß zurückgeben; aber sie weigerte sich mit einer Bestimmtheit, welche ich niemals in ihrem sanften, schmiegsamen Charakter vermuthet hätte, einen

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