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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Der Beppo?“ sagte Clo überrascht, denn er hatte ihn im Lauf der letzten Stunden gänzlich vergessen. „Im Dorfe sah ich ihn nicht, am Ende ist er gar krank geworden und liegt noch in Eurem Hause, Mutter. Elend genug sah er aus, und seine Kleider hatten mehr Löcher als heile Stellen. Muß doch rasch einmal nach ihm sehen.“

Schnell raffte er ein paar Kleidungsstücke zusammen und verließ das Haus. Es war ihm auch nicht unlieb, dem Jammern und Klagen der Frauen auszuweichen – zum Helfen war er bereit, der lange Clo, aber den Thränen ging er lieber aus dem Wege.

* * *

In der finsteren Kammer lag Beppo noch immer, das Gesicht am Boden, in bleiernem Schlafe. Er erwachte auch nicht, als jetzt beide Thürflügel aufgerissen wurden und Clo laut seinen Namen rief. Erst als dieser sich über ihn beugte und ihn derb an der Achsel schüttelte, schlug er die Augen auf und starrte verständnißlos vor sich hin.

„So, hier liegst Du und schläfst, während derweilen Dein Kindchen gestorben ist?!“ rief Clo ihm ärgerlich zu.

Bei diesen Worten richtete Beppo sich langsam auf.

„Er sieht erbarmungswürdig aus,“ dachte Clo, als ihn die tieftraurigen Augen aus dem blassen Gesicht heraus ansahen.

Dann antwortete Beppo ganz ruhig: „Ich wußte es – hab’ es geträumt!“ Leise, fast unverständlich setzte er hinzu: „Es mußte so kommen, damit ihr Wort in Erfüllung gehen kann.“

„Ich verstehe nicht, was Du da murmelst,“ versetzte Clo ungeduldig, „habe auch keine Zeit, hier lange mit Dir zu reden. Da ist Brot und da sind Kleider von mir, ziehe Dich an und iß, und dann mache, daß Du zu Deinem Weibe kommst! Du solltest schon lange dort sein!“

Beppo stand neben ihm, den Arm legte er um den Hals des Langen, schaute ihm treuherzig in die Augen und sagte dann mit innigem Tone:

„Du guter Clo! Du warst mir immer ein aufrichtiger Freund, hattest Nachsicht mit dem armen Beppo und wirst ihm auch vielleicht gut bleiben, wenn die andern übel von ihm reden. Leb wohl!“

„Was fällt Dir denn heute ein?“ erwiderte Clo voll Erstaunen. „Es wäre gescheiter, Du gingest helfen, statt zu überlegen, was die Leute von Dir sagen. Ich habe keine Zeit mehr, behüt Dich Gott und komm’ mir bald nach!“

Aber Beppo kam nicht nach, und als eine Stunde später Clo nochmals zur Kammer hereinschoß, ihn zu suchen, war diese leer und verlassen. Auch bei Aninia fand er ihn später nicht, und weder sie noch ihre Mutter thaten eine Frage nach Beppo. Das dünkte dem Clo sehr wunderlich, aber er hatte an jenem Tag so viel anderes im Kopfe, daß er nicht zum Nachdenken darüber kam.

* * *

Unter den Arven des Crestaltahügels, an der Erderhöhung mit dem schlichten Holzkreuz, Fra Battistas Ruhestätte, knieete am Nachmittag des folgenden Tages der Unselige, den seine That aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen hatte. Mit den Händen hielt er das Kreuz umklammert und tief beugte er sein schuldbeladenes Haupt, verzweiflungsvolle Worte murmelnd, als könnte ihn der noch hören, der hier unten in Frieden ruhte.

„Du hast es gesagt,“ stöhnte er, „o, hätte ich Deinen Worten gefolgt! Du warntest mich vor der Rachsucht, und ich Elender verschloß mein Herz und ließ den Bösen Herrschaft über mich gewinnen und that, was er mich hieß! Allmächtiger Gott!“ schrie er empor, „habe Barmherzigkeit und nimm mir die Last ab, die hier brennt und drückt! – Ach, es ist alles umsonst – ich bin verdammt, hier und dort in der Ewigkeit.“

Und er fiel aufs neue mit dem Gesicht auf den Hügel und weinte bitterlich.

Eine Weile blieb er regungslos so liegen; da drang plötzlich aus weiter Ferne in einzelnen Schlägen, langsam und klagend, der Ton der kleinen Kirchenglocke durch die Arvenwaldung bis auf die Höhe des Hügels. Jäh sprang Beppo empor, denn er ahnte die Bedeutung des Läutens. „Jetzt begraben sie mein Kind!“ schrie er in wilder Verzweiflung auf und stürzte davon. Doch schon im nächsten Augenblick strauchelte sein Fuß und er fiel in das Geäst eines großen, zwischen den Baumstämmen wuchernden Buschwerks. Wie er aufschaute – siehe da – erkannte er das erste Grün eines Alpenrosenstrauches. Dem kleinen harten Geäst entsproßten zart und noch von ihren grünen Hüllen geschützt, die ersten rothen Blüthen der lieblichen Alpenrose. Des armen Beppos Antlitz lächelte; es war, als ob diese ersten Boten des Frühlings ihm die Hoffnung andeuten wollten, daß auch ihm nach dem Winter der Buße noch ein neuer Lebensfrühling erstehen könnte. „Für mein Kindchen!“ flüsterte er, und während die kleine Glocke ihr Trauergeläute fort und fort erklingen ließ, knieete er nieder und pflückte sorgsam die Aestchen mit den jungen Blättchen und den knospenden rothen Röschen zu einem kleinen Strauß. Dann schritt er weiter, bis zur Hälfte des Hanges hinab, wo er sich auf einen Felsblock niederließ, von dem aus er zwischen den Stämmen der Arven hindurch auf den See, die Ebene und das verwüstete Dorf mit seiner Kirche schauen konnte. Es war dieselbe Stelle, wo er vor nicht ganz einem Jahre gekauert und hinunter auf die Wiese gespäht hatte, wo das Frühlingsfest gefeiert wurde, das dann ein so blutiges Ende gefunden hatte. Welch ein Unterschied gegen heute! Damals eine grüne, blumige Wiese, eine fröhliche und glückliche Menschenschar! und jetzt – eine mit Schlamm und Steinen bedeckte trostlos öde Fläche, und klagende, verzweifelnde Bewohner eines zerstörten Dorfes! Damals eine Gold-Aninia in voller Mädchenschöne, in unbefangener, fröhlicher Jugendlust, und heute – eine arme Mutter, die in diesem Augenblick ihr Kind, den einzigen Rest ihres kurzen Liebesglückes, zugleich mit diesem erstorbenen Glück für immer in die Erde versenkte. Und er, Beppo, er allein hatte dies alles verschuldet, in blindem thörichten Wahn! Nein, nein! für ihn, den Unseligen, konnte es keine Verzeihung, keine Sühne mehr geben!

Das Glöckchen tönte noch immer fort, und dem Ringenden war es, als klänge ihm aus der Ferne ein frommes Lied von vielen Männer- und Frauenstimmen entgegen, das von einem Auferstehen, einem Wiedersehen jenseit des Grabes sang, von der Allbarmherzigkeit Gottes, der dem wahrhaft Reuigen verzeihe. Wie ein himmlischer Trost in höchster Noth drangen Töne und Worte in das Herz des armen Beppo und linderten die bittere Verzweiflung darin.

Als es vollkommen dunkel geworden war, verließ Beppo seinen Stein und schlich sich hinab nach dem kleinen Friedhof, der auch Spuren der Zerstörung in seinen eingestürzten Mauern aufwies. Das kleine frische Grab hatte er bald gefunden, er warf sich davor nieder und pflanzte sein Sträußchen in die feuchte Erde. Den letzten Abschied im Thal wollte er von seinem todten Kindchen nehmen.

Während er halblaut betend noch auf seinen Knieen lag, hatte durch den weitoffenen Eingang eine Frauengestalt den Gottesacker betreten. Sie sah den Mann auf dem Grabe, hörte sein Murmeln, glaubte die Stimme zu erkennen, und – „Beppo, Beppo!“ wollte der Mund rufen, doch der Laut versagte, – oder machte ein anderes, noch mächtigeres Gefühl ihn stumm? Dennoch wankte die Frau auf das Grab zu – da erhob sich der Mann und entfernte sich, ohne die Nahende zu bemerken.

Jetzt hatte Aninia – denn sie war es – den Hügel erreicht. Sie sank zur Erde nieder und ihre Hand, nach einem Halt tastend, fand das kleine Sträußchen Alpenrosen. Da entrang sich eine Empfindung freudigen Hoffens ihrer Brust, und nun auch in zitternden Lauten den Lippen der Name: „Beppo, Beppo! –“

Es war zu spät! Ungehört verhallte der Ruf; der, dem er galt, war im Dunkel der Nacht verschwunden.


13. Neue Heimath.

Das Dorf Surley erholte sich nicht wieder von dem schweren Unglück, das es im Frühjahr 1791 erlitten hatte. Wohl waren mit der Zeit die Steinblöcke, der Schlamm und das Gerölle weggeschafft worden, doch die zerstörten Häuser blieben unbewohnt, ihre früheren Insassen wollten nicht mehr nach dem unglückseligen Orte zurückkehren. Drüben auf der anderen Seite des Sela, in dem höher gelegenen, sicheren Silvaplana siedelten sie sich an. Zum Bauen der neuen Wohnstätten, Ställe und Stadel holten sie sich Steine und Holzwerk hinüber, und so vergrößerte sich dieser

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 643. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_643.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)