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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Wandlungen der Sprache.

Zweckessen. – Tracht Prügel. – Verblümte Redensarten. – Zeitung. – Uhr. – Wirth.

Alles ist im Flusse“ – dieser Satz des alten Philosophen Heraklit von Ephesus gilt wie vom ganzen Leben der Natur so von der menschlichen Sprache. Es giebt keinen Stillstand in ihr, alles ist in einer steten Umwandlung begriffen, die äußere Form und der innere Werth. Die „Gartenlaube“ ist in einer Reihe von Artikeln in den Jahrgängen 1883 bis 1885 dieser Erscheinung nachgegangen und hat Beispiele derselben gesammelt. Mögen nunmehr einige weitere folgen.

Was ist das für eine besondere Art von Essen, ein „Zweckessen“?

Wir verstehen wohl, was unter dem Namen verstanden wird: ein Essen, das irgend einem besonders bedeutsamen Anlaß zu liebe veranstaltet wird, sei es nun, daß der würdige Ortsvorstand sein fünfundzwanzig- oder fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiert oder irgend ein Stand, eine Genossenschaft ihren „Tag“ hält und von dem Rath der auserkorenen Versammlungsstadt zu einem Festmahle geladen wird.

Aber woher der sonderbare Name? Erweckt er doch den Anschein, als ob der Mensch für gewöhnlich zwecklos äße und nur an solchem Feiertage seine Speise zweckvoll zu sich nähme; oder als ob mit solchem Essen noch ein ganz besonderer uneingestandener Zweck verfolgt würde, wie etwa mit dem Essen der Generale in Schillers „Wallenstein“.

Offenbar können wir mit unserem heutigen Begriffe des Wortes „Zweck“ in diesem Falle nichts anfangen, und wir müssen, um den Schlüssel zu dem Verständniß des „Zweckessens“ zu gewinnen, etwas in die Vergangenheit hinaufsteigen.

In der Zeit, da das Wort „Zweck“ in unserer Sprache nachweisbar wird, im 13. Jahrhundert, weiß es von dem heutigen Begriffe nichts, viele Jahre der frischen Jugend durchlebt es, ja sogar ein gutes Stück des kernigen Mannesalters, ehe es sich im Laufe des 16. Jahrhunderts ganz allmählich der Bedeutung nähert, welche wir ihm heute gemeiniglich beilegen. Wenn es aber vorhanden war, in welchem Sinne verwandte es der Sprachgeist? Mögen einzelne Strahlen unserer Litteratur den ursprünglichen Begriff des Wortes erhellen.

Wenn unser großer Reformator und Sprachschöpfer Martin Luther über seine Bibelübersetzung vom Jahre 1541 sich äußert: „Meine Lehre ist der Zweck, von Gott gesteckt, zu dem alles muß schießen; doch wird der Zweck von ihnen allen ungetroffen bleiben“; wenn ferner der Berliner Hofpoet Friedr. Rud. Ludw. v. Canitz (1654 bis 1699) in einem seiner heutzutage ziemlich unbekannten, der damals herrschenden französischen Schablone angepaßten Gedichte von „Schützen, die alle nach einem Zwecke schießen, aber nicht alle treffen“, spricht; wenn endlich noch in unserer Zeit der Schweizer Albert Bitzius oder, wie er sich nannte, Jeremias Gotthelf (1797 bis 1854) in dem sehr lesenswerthen „Geld und Geist“ meint: „Ob man den Zweck von oben oder von unten zu nehmen habe, weiß man nicht mehr, und aus dem Stutzer fährt der Schuß allweg nicht in den Zweck, oft nicht einmal in die Scheibe“, – so ersieht man aus diesen Stellen mit unfehlbarer Sicherheit, daß dem Worte „Zweck“, wie es hier gebraucht ist, ein ganz anderer Begriff zu Grunde liegt als dem unsrigen. Und zwar läßt uns das Gotthelfsche Citat kaum noch im Zweifel über den früheren Sinn des Wortes.

Der „Zweck“ (zwec) war der Pflock oder Nagel – wir haben noch heute das weibliche Wort „die Zwecke“ – der, in der Mitte der Schießscheibe angebracht, den Schützen als Ziel diente. Zur Erreichung dieses „Zweckes“ entschwirrte der Sehne der Pfeil auf den mit großem Aufwande, mit erstaunlicher Pracht veranstalteten Schützenfesten des Mittelalters, und stolz wie ein Olympiasieger im alten Griechenland war derjenige, dem es gelungen, den „Zweckschuß“, den Schuß in den „Zweck“, also den besten Schuß, wie wir heute sagen: ins „Schwarze“, zu vollbringen und den „schönen Preis“ davonzutragen. Und wenn dann während eines solchen „Zweckschießens“, wie sie besonders glänzend zu Zürich 1472, zu Frankenhausen 1540, zu Leipzig 1550, zu Straßburg 1576 und zu Halle 1601 gefeiert wurden, auch die üblichen „Zweckessen“ stattfanden, so ist einleuchtend, daß dieses Wort für jene Zeit eine vom heutigen Gebrauche sehr abweichende Bedeutung besitzt – seine ursprüngliche.

Ebenso einleuchtend aber ist es, wie im Laufe der Zeit, besonders als vom 17. Jahrhundert an die früher so prächtigen Schützenfeste immer mehr und mehr verfielen, Zweckschießen und Zweckschüsse, also auch der Zweck selbst ihr Ende fanden, das Wort allmählich von seiner ursprünglichen wesenlos gewordenen Bedeutung abscheidend die bildliche annehmen konnte, welche wir ihm heute unterlegen. Wie die Worte „Rennen“ und das zwischen mehreren gleich Guten entscheidende „Stechen“ ursprünglich den ritterlichen Turnierübungen entstammen, nach dem Untergange derselben aber auf andere Spiele, schließlich sogar auf unsere Kegelbahnen übergingen, so wandelte auch das Wort „Zweck“ seinen Begriff in einen andern naheliegenden, freilich allgemeineren um. Aber noch heute will es das Ziel bedeuten, das zu erreichen der thätige Mensch alle seine Kräfte einsetzen soll, und wohl ihm, wenn der „Zweck“ seiner Handlungen stets ein guter und der Menschheit nutzenbringender ist! –

Indeß, um zu einem andern Worte überzugehen: wer kennt nicht die hübsche Anekdote, in welcher die zärtliche Mutter eines sehr ungezogenen Buben im Gespräch über die Kleidung des Kindes an ihren Gemahl die Frage richtet, welche „Tracht“ wohl für ihren Knaben die beste sein würde, und von demselben die gewiß sehr unerwartete Antwort erhält: „Eine Tracht Prügel!

Wie soll man sich diese dem jungen Germanien sicherlich nicht allzu kleidsam erscheinende Tracht denken? Sollen etwa die erbarmungslosen Streiche so dicht oder, wie unser Nibelungenlied in diesem Falle singt, so „genôte“ auf den jugendlichen Körper niederfallen, daß sie diesen gleichsam wie mit einem Prügelgewande umhüllen? Gewiß nicht! Die Erklärung liegt vielmehr in der früheren zwiefachen Bedeutung des natürlich von „tragen“ abzuleitenden Wortes „Tracht“, welches nicht nur die Kleidungsart „wie man sich trägt“, sondern auch das „was man trägt“ und zwar besonders „auf den Tisch“ trägt, das Gericht, die Speisen bezeichnete, die bekanntlich in Schillers „Graf von Habsburg“ „trug der Pfalzgraf des Rheins“.

Von diesen beiden Bedeutungen des Wortes Tracht“ indeß erfreut sich ihres Daseins heute nur noch die eine, welche die Kleidung bezeichnet, in der Bedeutung Gericht und Speise ist das Wort wie so manches andere nach kurzem Siechthum dahingeschwunden.

Wie fremd klingt es uns heute, wenn wir ihm, dem einst so blühenden, in Fischarts „auß Griechischem und Latinischem nun das erstmal inn Teutsche Sprach verwendeten Philosophisch Ehzuchtbüchlin“ vom Jahre 1578 in folgendem Zusammenhange begegnen:

„Man findet oft Leute, denen die köstlichen trachten nicht mehr schmacken, und dafür an schlechter und grober Kost ihren lust büsen!“

Nur in einer einzigen und noch dazu sehr unangenehmen Redensart hat das Abgestorbene eine Erinnerung an seine frühere lebensvolle Existenz bewahrt, eben in der erwähnten „Tracht Prügel“, die denn also nichts anderes als ein aus Prügeln bestehendes Gericht bedeuten will. Und wem sollte dabei nicht die bildlich mit dieser abscheulichen Tracht eng zusammenhängende, nur mit noch bezeichnenderer Begriffsverengung auftretende „Prügelsuppe“ einfallen? –

Was verstehen wir heute unter verblümten Redensarten? Was verstand man in früherer Zeit darunter? – Jakob Wimpheling, der „Altvater des deutschen Schulwesens“ und Docent an der Heidelberger Universität, bittet in einem an den Ritter Friedrich v. Dalburg, den Bruder des Gönners der Humanisten Johann v. Dalburg, gerichteten Briefe „Datum Heidelberg, Lucie virginis anno domini im dusensten vierhundersten“ – Zehner und Einer sind nicht näher angegeben – denselben, er möge seine ungezierte und ungeschmückte Uebersetzung des Philippus Beroaldus annehmen, wie sie sei, da er „hofflichs und verbliempten Dutschens ungeubt“ sei.

Aus dem Sinne dieser Stelle geht, wie auch aus andern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_635.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)