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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

des Leitartikels einer politischen Zeitung, der ihn unter andern Umständen in Wuth versetzt haben würde, er raucht eine besonders aufbewahrte Havanna, aber „shocking!“ tönt die häßliche Stimme in seine frohen Betrachtungen aus dem politischen Aufsatz, und – „shocking!“ – aus dem Rauch seiner Cigarre entwickelt sich gar die lange, eckige Gestalt der englischen Lehrerin, die er seit Jahren aus den Augen verloren.

Mißmuthig und mit bedrücktem Herzen legt er sich in das geöffnete Fenster. Das richtige Herbstwetter! Fast greifbarer Nebel, durch den die Straßen- und Wagenlaternen wie verlöschend glimmen, der das Geräusch zu dämpfen scheint und die geschäftigen Menschen verschwommen wie Schatten über die Fliesen gleiten läßt.

Konrad ertappt sich darauf, daß er sich Mühe giebt, die Vorübergehenden erkennen zu wollen.

Lächerlich! – Er kennt niemand, er will niemand kennen außer der einen, die in all ihrer Jugend und Schönheit sich ihm freiwillig zugewendet, die ihm wiedergegeben hat, was er lange verloren: starkes, reines Empfinden mit jener Hochachtung vereint, die in jungen Jahren die Hauptbedingung jeder Neigung ist, in späteren oft vor dem leidenschaftlichen Wunsch zurücktritt.

Und doch – ein banges eisiges Gefühl überkommt ihn – schien es nicht ebenso damals, damals . . .

Dieses „Damals“, das gerade jetzt in die glückliche Gegenwart ein breites, häßliches „shocking“ gerufen …

Konrad ist im gewöhnlichen Leben ein großer Philosoph. Er ist dazu erzogen durch das Beispiel seines älteren Bruders, dessen überlegene Weltanschauung ihm schon in seinen Jünglingsjahren Bewunderung einflößte.

Sie sagte seiner Anlage am meisten zu, und da er innerlich noch wenig erlebt hatte, bemühte er sich in seinen jungen Jahren so lange, sie nachzusprechen, bis er sich einredete, durch alles, was er gesehen, gelesen, gehört – sich eine eigene Anschauung geschaffen zu haben.

Das war, bis die einzige Leidenschaft in seinem Leben ihn vorwärts gerissen.

Da waren falsche Philosophien und Theorien verschwunden, Glückseligkeit ohne Ende sollte das Leben bringen. Das angebetete Mädchen, seinem Elternhause befreundet, war seine Braut und sollte in kurzer Zeit seine Gattin werden . . . Wie stolz er war, daß sie ihn gewählt, wie stolz aber auch auf all die äußeren Vorzüge, die eine Verbindung mit ihm dem schönen, aber armen Mädchen bieten würde, mit ihm, der trotz seiner Jugend bereits hochgeachteter Anwalt war und als Nachfolger seines rühmlich bekannten Vaters und Geschäftstheilhaber des älteren Bruders schon einen Ruf zu vertreten hatte!

Der schöne Traum hatte ein jähes Ende genommen, das Leben war ein nüchternes, der Poesie und des Glücks entkleidetes geworden, und die früher eingebildete schwarzseherische Lebensanschauung hatte tiefe Wurzeln in der Seele des Verarmten geschlagen und war stärker und schwärzer geworden im Lauf der Jahre, bis in diesem Sommer . . . Aber, „shocking“ tönt es da plötzlich wieder in seine eben freundlicher werdenden Gedanken – und mit einem leisen Schauder muß er der Scene gedenken, in der er es zum letzten Mal vernommen . . .

Im Sommer waren es zwölf Jahre gewesen.

Ein schwüler Nachmittag – die Bäume in dem kleinen Vorgarten seiner Wohnung in der Matthäikirchstraße bewegungslos – die Luft bleiern. Er selbst sieht einem Falter zu, der mühsam einer Rose zuflattert – eine Schwalbe erhascht ihn im Fluge, eine Heuschrecke zirpt eintönig melancholisch, schwüler Jasminduft strömt ins Zimmer. Ihn überkommt ein schweres, unbehagliches Gefühl, wie alle nervösen Menschen vor dem Ausbruch eines Gewitters. – Da drückt man draußen mit Ungestüm auf die Glocke.

Der Diener meldet: „Miß Sikes.“

Miß Sikes tritt ein; Konrad kennt sie, die Erzieherin seiner Braut. Ihre augenscheinliche Erregung läßt ihn nichts Gutes ahnen. Er bittet sie, Platz zu nehmen – „to take place“, sagt er, und Miß Sikes erschrickt nicht über den Fehler, den er macht.

„Ich bringe Ihnen eine schlechte Nachricht,“ sagt sie in ihrer Muttersprache.

Konrad springt auf.

„Meine Schwiegermutter kränker – todt –“

Die Engländerin schüttelt den Kopf.

„Magdalene –“

Sie nickt.

Die Miß muß wahnsinnig geworden sein: seine Braut, die er gestern in voller, blühender Gesundheit verlassen, der er heute das übliche Bouquet gesendet, das sie mit dem gewöhnlichen Dank beantwortet hat.

„Unmöglich!“ sagt er bestimmt – „Friedrich hat vor einigen Stunden mit ihr gesprochen.“

„Und doch ist sie todt, todt für Sie, für die Ehre – und ich Unglückselige, die ich sie wie mein eigenes Kind geliebt habe, ich muß Ihnen diese Nachricht bringen.“

Konrad fühlt den Angstschweiß auf seiner Stirn, sein Herz hört auf zu schlagen.

„Was ist geschehen?“ murmelt er tonlos und wendet sich so, daß er das Bild Magdalenens von Langendorf, seiner Braut, das auf einer Staffelei in der Fensternische steht, betrachten kann.

Mechanisch vertieft er sich in den Anblick des unsagbar schönen, keuschen Mädchengesichts, das aus großen, wehmüthigen Augen zu ihm herübersieht, als wollte es durch einen bloßen Blick die furchtbaren Anklagen Lügen strafen, die eben die mütterliche Freundin, die Erzieherin, auf das schöne blonde Haupt schleudert.

„Sie hat Sie betrogen,“ sagte Miß Sikes nun ohne Umschweife, „mit dem leichtfertigen Maler, den Sie uns brachten, der jenes Bild dort malte.“

„Fräulein Sikes, Sie verleumden,“ ruft Konrad, seiner selbst nicht mächtig. „Sie sprechen von meiner Braut und von meinem besten Freunde.“

„Ich spreche von dem Wesen, das ich in der verdorbenen Luft seines Elternhauses emporwachsen sah wie eine reine Lilie, das ich als Kind beten lehrte, das der Liebling meines einsamen Herzens geworden ist – dem Geiste nach mein Kind – ein süßes, gottbegnadetes Geschöpf . . . “

Ihre rauhe Stimme bricht in der Erregung.

Konrad ist wie ein Träumender.

Noch ist draußen der Sturm nicht losgebrochen, nicht das Gewitter, das Blüthen und Zweige tödten wird – eine unheimliche Stille in seinem Innern wie draußen.

Es sagt ihm etwas, daß das gebrochene alte Mädchen neben ihm die Wahrheit spricht – eine entsetzliche Wahrheit, die jede Fiber seines Wesens sich sträubt, zu glauben.

„Sprechen Sie!“

„Es muß unseliges Erbtheil des Blutes sein – ich kann es sonst nicht fassen, dear Sir. Ich bin nur ein armes, weltfremdes Mädchen, mein Leben ist im Dienst der Familie hingegangen, in der ich viel Trauriges erlebt habe, und ich bin wenig mit Männern in Berührung gekommen, aber dieser elegante Herr Lemberg war mir ein Abscheu von dem ersten Besuch an, den er bei uns machte, obgleich ich gegen sein Englisch und seine Manieren nichts einwenden konnte.“

„Ich weiß,“ murmelt Konrad, „Sie mochten ihn nie, und er und ich haben oft darüber gescherzt.“

„Ich mochte ihn nicht, weil er Magdalene mit verzückten Augen ansah, weil er ihre Schönheit nicht genug loben konnte, ihr ins Gesicht hinein, als ob er von irgend einer Sache spräche, die Ihre Braut gar nichts anginge. – Sie nannten das lachend ‚Künstlerenthusiasmus‘, und mein armes Kind, das sich anfangs gegen diese Huldigungen gesträubt hatte, fing an, Gefallen an dem Weihrauch zu finden, sie fing an, zu erstaunen, daß Sie, ihr Bräutigam, diese vielgerühmte Schönheit nicht mehr bewunderten, und das mag wohl der Punkt gewesen sein, an den der Elende anknüpfte, um Sie ihr zu entfremden. Dann die langen Sitzungen zu dem Bilde, bei denen ich nicht immer zugegen war, meiner Unterrichtsstunden wegen, und Frau von Langendorf nicht, weil sie zu angegriffen war.

‚Liebe Sikes,‘ sagte sie mir eines Tages, ‚wäre es nicht möglich, daß Sie öfters bei diesen Sitzungen sein könnten? Sie sprechen da drinnen schauderhaftes, gotteslästerliches Zeug. Er scheint ein furchtbarer Freigeist zu sein, und Magdalene ist neuen Gedanken so zugänglich. Auch macht er ihr meiner Meinung nach zu sehr den Hof, was sie freilich bestreitet …‘

Ich war entsetzt. Wenn Marie Langendorf in ihrer stumpfen Art dergleichen bemerkte, mußte es weit gekommen sein. Ich gab die Vormittagsstunden auf und nahm meinen Posten bei dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_494.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)