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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

blickte er sich nach mir um, mit einem Blick, scharf wie Nadeln. Ich fühlte ihn noch, als ich schon die Wimpern geschlossen hatte. Dann hörte ich, wie er sich abwandte, und sachte, sachte zwinkerte ich ihm nach. Mit noch behutsameren Bewegungen als vorhin, unhörbar, faßte er nach seinem im Netzwerk liegenden Koffer, hob ihn, mit der Linken von unten stützend, um ihn nicht gegen das dünne eiserne Randgestänge des Hängenetzes schleifen zu lassen, ein wenig empor und dann – o so sänftiglich – auf den Sitz hernieder.

Welch peinlicher Mensch! dachte ich. Wie er besorgt ist, daß der neue schöne Koffer nur beileibe keine Schramme bekomme! Oder nimmt er so zarte Rücksicht auf meinen ‚Schlaf‘? Sieht ihm gar nicht ähnlich.

Jetzt greift er in die Hosentasche und zieht ein dünnes Schlüsselchen hervor, so eines, wie man es zu den Chubb-Schlössern hat. Leise, leise, daß es kaum klirrt, schiebt er es ins Schloß – dann ein kurzes Knacken, und der vollgepfropfte Koffer klafft mit einem nicht mehr zu dämpfenden Ruck weit auf. Der Mensch erschrickt, klappt duckend zusammen, als hätte ihn plötzlich eine Riesenfaust im Genick gepackt. Dann richtet er sich wieder hoch auf und fährt zu mir herum. Gewiß glotzt er mich an – aus nächster Nähe – mich überhaucht es wie der heiße Athem aus einem Raubthierrachen. Ich sehe ihn nicht, aber ich athme seine fürchterliche Nähe. Ich fühle ganz deutlich, daß er sich über mich gebeugt hat; es lastet über mir wie ein schattender, dicker Qualm; ich höre seine Brust sich in kurzen Stößen heben und senken – und ich weiß, o so sicher weiß ich es, daß Leben und Tod in diesen Sekunden um mich ringen! Die leiseste Bewegung wie die eines Wachenden, ein Zucken der Augenlider, und es ist um mich geschehen. Es ist sehr warm, und doch überfröstelt es mich wie ein Anhauch aus offenem Grabe.

Er muß seiner Sache sicher sein, er muß an meinen bleiernen Schlaf glauben, denn er beugt sich nicht mehr über mich hin. Ich höre ihn sich auf seinen Sitz niederlassen. Gleich darauf erhebt er sich wieder, macht mit dem rechten Arm eine Bewegung nach oben, als wolle er den Blendschirm zurückklappen, um besser zu sehen, wohl um mich besser zu sehen; doch er läßt nach kurzem Besinnen den Arm wieder sinken. Einmal greift er auch, wie nach einem plötzlichen Entschluß, in die äußere rechte Seitentasche des Ueberrocks, in die andere, aus der kein Handschuhzipfel hervorguckt. Die Hand bleibt wohl eine halbe Minute in der Rocktasche, doch kommt sie leer wieder heraus.

Und dann? – Großer Gott, was ist das! Nimmt er nicht aus dem weit offenen Koffer vorsichtig, erst zögernd, dann fest entschlossen ein großes, mit einem dicken Bindfaden umschnürtes Packet von Zeitungspapier heraus und stopft es blitzgeschwind unter den vorgezogenen Sitz? Dann noch eins und noch eins. – Könnte ich nur deutlicher sehen, nur den Kopf ein wenig drehen!

O, was er auch da dicht vor mir verbergen mag, wer er auch sei, ein Raubmörder oder ein Verrückter – ich weiß jetzt, daß ich Zeuge bin des zweiten Aktes in einem furchtbaren Drama.

Ich kann nichts denken, nichts wünschen als: käme nur eine Haltestation! Aussteigen, gleichviel in welches andere Coupé, oder den Zug verlassen, irgendwo warten auf den nächsten Zug! Nur nicht länger zusammenbleiben mit diesem entsetzlichen Menschen, dem ich einer zu viel bin!

Wie lange es wohl noch dauern mag bis zum nächsten Halt? Der Expreßzug hat erst einmal gehalten, ‚Compiègne!‘ hatte man gerufen. Das ist jetzt bald eine Stunde her.

Doch da pfeift die Maschine zum Bremsen; langsamer fährt der Zug; ein Halt naht.

Der entsetzliche Mensch schiebt eilig seinen Sitz zurück und setzt sich nieder. Er will auch den Koffer schließen, aber dessen Inhalt ist wirr durcheinander gerutscht, zum Theil auf die Polster gefallen. Er kommt nicht mehr damit zurecht. Jetzt hält der Zug. Draußen ruft man: ‚Tergnier!‘. Die Thür wird heftig aufgerissen. Der Bärtige sitzt da mit zusammengebissenen Zähnen, die eine Hand in die Ueberziehertasche versenkt, einen finsteren Entschluß im Gesicht. Den geöffneten Koffer sucht er nach Möglichkeit durch seinen zurückgeschlagenen Ueberrock zu decken. In diesem Augenblick hat er sogar mich vergessen.

Seine Furcht – denn nur Furcht sieht so aus – war überflüssig. Ein Eisenbahnarbeiter ist, ohne ein Wort zu sagen, ins Coupé gesprungen, reicht einem draußen stehenden zweiten Arbeiter die erkalteten Heizbüchsen hinaus, schiebt zwei frischgefüllte herein und schlägt die Thür zu. Ein Schaffner hat hereingerufen: Zwei Minuten Aufenthalt! Aber ich, der ich den ersten Haltepunkt wie eine Erlösung herbeigesehnt, liege ganz still da. Auch ich habe die Zähne zusammengebissen; ich bleibe – komme was da will!

Jedoch mit dem bloßen Schlafheucheln ist es jenem Menschen gegenüber nicht gethan. Nur nicht eine Dummheit begehen aus halber Klugheit! – Ich räkle mich, werfe mich wie ein im Schlaf Gestörter auf meinem Lager umher, schiebe mir das Kopfkissen zurecht, starre wie schlaftrunken um mich, auch auf jenen Menschen, der ganz still dasitzt, und – bin wieder der harmlose Schläfer.

Ob mir die Täuschung gelungen? Ob er nicht doch gemerkt, daß ich nur mit ihm gespielt? Wenn er es gemerkt hätte! – Wenn er hörte, wie mein Herz jetzt klopft! Er muß es ja hören. Höre ich es denn nicht ganz deutlich, in der Stille der Nacht, während der Zug noch hält? Soll ich nicht jetzt noch aufspringen und mich hinausstürzen?

Aber vielleicht war alles nur ein harmloses Ungefähr. Wie konnte jener Mensch der Mörder und Räuber sein, mit den gesunden fünf Fingern an jeder Hand? – Aber war man denn wirklich so ganz sicher, daß der Vierfingrige, der sich so auffällig an der Kasse zu schaffen gemacht hatte, der Verbrecher war? Konnte der, gleichviel ob vierfingrig oder was sonst, nicht einen Spießgesellen gehabt haben, der jetzt die Hälfte der Beute in Sicherheit brachte? – Ich bleibe liegen! sagte ich mir. Aber da war es ohnehin zu spät zur Flucht; der Zug fuhr weiter.

Solange der noch nicht seine volle Geschwindigkeit erlangt hatte, blieb der Bärtige unbeweglich sitzen, die Rechte noch immer in der Seitentasche des Ueberrocks, seine Augen jetzt unverwandt auf mich geheftet. Wie wenig Licht braucht doch ein Menschenauge, um alles um sich herum wahrzunehmen! Nur ein Spältchen breit wie ein Frauenhaar, wie ein Spinnwebfaden lassen meine Wimpern offen, aber alles, alles sehe ich dadurch.

Was der Mensch nur in jener Ueberziehertasche verbirgt, festhält, umklammert? Ja gewiß, umklammert, denn sehe ich nicht die Sehnen seines Handgelenkes bis zum Zerreißen gespannt? Hat er auch da eines der Packete versteckt? Hat er vielleicht –? Eine längliche, fast senkrecht verlaufende, schmale Erhebung in dem dicken, dunkelbraunen Zeug des Rocks, der Taschenklappe. – O, jetzt hab’ ich’s! Ein Dolch, eine Pistole, ein Revolver! – Wie sich gleich einem Wirbelsturm meine Gedanken, meine Erinnerungen jagen! Ich denke an den Tod; aber merkwürdig, ich habe nicht die geringste Angst vor ihm. Er ist mir nicht halb so entsetzlich wie jener Mensch dort mit dem Räthsel seines Wesens. Ich bin ganz klar im Kopf, in allen Sinnen. Ich zähle die schwarzen Hornknöpfe an dem Ueberzieher des Menschen, der die Mordwaffe gegen mich umspannt hat, und – gar zu gern wüßte ich, ob an dem etwas zurückgeschlagenen unteren Schoßende nicht noch ein Knopf sitzt. Das dünkt mir von äußerster Wichtigkeit.

Wenn das noch lange dauerte, würde ich verrückt, das fühlte ich. Oder ich mußte aufspringen und dem Menschen ins Gesicht brüllen: ‚Ich schlafe ja gar nicht, hast Du das denn nicht einmal bemerkt? Du bist der Mörder, der Dieb, und ich weiß es!‘ – Und wie lange konnte es noch dauern? Meine Schläfen brannten und hämmerten; meine Fußsohlen prickelten, als kröchen Tausende von aufgestörten Ameisen drauf hin und her.

Ich war nie zuvor mit diesem Zug gefahren. Auf dem Fahrplan des Bahnhofes hatte ich nur gesehen, daß er an ganz wenigen Stationen hielt. Ob das so weiter gehen würde in diesem meinem rollenden Sarge bis zur belgischen Grenze? Bis nach Erquelinnes? Bis dahin waren nach meiner Schätzung noch reichlich zwei Stunden. Je schneller jetzt wieder der Zug fuhr, desto sicherer war ich, der Mensch würde bald irgend etwas unternehmen. Wenn er ein Verbrechen zu verbergen oder die Früchte eines Verbrechens zu flüchten hatte, – konnte, mußte er sich nicht sagen: Nur die Todten reden nicht? So wenig wie der arme Lesoudier, der Nachtwächter, noch redete? Nur ein Hauch des Zweifels an meiner Harmlosigkeit, und derselbe Revolver machte auch mich stumm. Die kleinkalibrige Kugel! Und wie leicht war es dem starken Mann, mich dann wie ein Bündel durchs Fenster hinauszuschleudern in die mondlose Nacht! Und wenn er noch so sicher war – er wußte ja, ich kannte das Verbrechen der letzten Nacht in der Rue Bergère.

(Schluß folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 463. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_463.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)