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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Desto lauter fochten andere um den Purzelmann. Alle Fachblätter waren in Aufruhr. Steffen hatte zu sehr an blaue Augen, statt an gelehrte blaue Brillen gedacht. Er sollte sich blamirt haben mit seinem Essay. Der Streit hallte bis nach Tannenroda. In der Honoratiorenstube des Sichelhammers war von nichts anderem die Rede. Der junge Forstkandidat glaubte an den Amor, der Apotheker hoffte auf ihn wegen seiner neuen Heidelbeerweinetikette.

Man berieth, ob man eine Erklärung loslassen solle. Aber der Schulze entschied mit der alten Bauernweisheit: „Wem die tolle Kuh gehört, der packe sie am Schwanz. Das ist der Herr Bibliothekar, der den Purzelmann erfunden hat.“

Der that das Seinige, schrieb dickleibige Aufsätze und schickte sie an alle ihm zugänglichen Zeitschriften ein, stand dem „alten Herrn Kollegen“ mit gelehrten Auseinandersetzungen bei, ertrug standhaft die scharfen Widerlegungen, den Spott, der wie immer die Hypnotisirten traf, und vertrieb die Lose der Ausstellungslotterie, deren Gewinnste aus Nachbildungen alten Geschirres bestanden.

Endlich erstarb der Streit an der Unbedeutendheit des Gegenstandes; aber der alte Optimist nahm das auf als Sieg seiner guten Sache. – – –

So kam der Herbst allmählich ins Gebirge. Welkes Laub gab es wenig in den Nadelwäldern; das Moos grünte in der feuchten kühlen Luft noch frischer. Aber Nebel umhüllten die Brandkuppe; in der Schlucht „brauten die Hirsche Thee.“

An einem kalten Novembertag kam der Purzelmann zurück, als fege ihn der Herbststurm herein. Ohne Sang und Klang, wie eine Beerenkiste beim Schwumprich, wurde er bei dem Bibliothekar abgeladen.

„Der Purzelmann ist wieder da,“ rief dieser athemlos vor Freude, als käme der verlorene Sohn heim. „Wo ist der Schwumprich mit Hammer und Zange?“ Und das Klopfen und Auspacken begann.

„Da ist unser Gewinnst: eine Kopie der alten Lebkuchenform,“ verkündete der alte Herr.

„Ach, welch schöner Reitersmann!“ rief Hulda. Sif warf einen finsteren Blick auf den geharnischten Reiter.

Der Bibliothekar wickelte den Purzelmann aus seinem Strohbett und löste vorsichtig die Papierhüllen ab.

Nicht genug Zärtlichkeit konnte der Vater dem altdeutschen Liebesgott erweisen. Und wie hatte der seines Amtes bei ihr gewaltet! – Sif dachte mit Wehmuth daran.

Hulda glättete die Zeitungsbogen und nahm sie mit sich zum Anzünden des Herdfeuers.

„Das muß eine Pracht gewesen sein,“ rief sie Sif zu, die an der Küchenthür vorbeiging. Und sie studirte eifrig weiter in dem Blatt.

„Was meinst Du?“ fragte Sif.

„Die prächtige Hochzeit. Da ist das Tageblatt aus der Stadt, wo das Fräulein war. Das beschreibt die Festtafel mit dem Pokal. Haben Sie den auch gesehen?“

Ob Sif ihn gesehen hatte! Sie konnte plötzlich nicht weiter kommen. Und halb betäubt sank sie auf den alten treuen Küchenschemel. Hulda hielt das Blatt ihr vor das Gesicht. Ja! was war denn das? Sie las noch einmal, sie wischte sich die Augen, sie starrte darauf nieder: es blieb die Vermählung des Grafen Rossel von Rosselsprung-Steinklipp mit Fräulein Ellen Arion.

Sif stützte das Haupt in die zitternden Hände und ließ Hulda lesen von dem Polterabend, den der Direktor seinem ehemaligen Rittmeister mit feinem Geschmack veranstaltet hatte; von dem Gipsabguß des Purzelmannes, der dabei paradirt hatte, weil ohne ihn der Bräutigam nie zu der Braut gekommen wäre.

Dann schlich sie hinauf. –

Auf seinem Ehrenplatz thronte wieder der kleine Götze. Sie warf einen vergebenden Blick auf das runzlige Gesichtchen. „Du hast Deine Pflicht gethan; aber in mir war der Stolz größer als die Liebe.“ Jetzt stellte alles sich ihr anders dar. Sie sah Steffen, wie er ihr nacheilte; sie hörte seine stockende Stimme am letzten Morgen; sie las zwischen den Zeilen des Aufsatzes. Immer hatte Liebe zu ihr gesprochen; aber diese war nicht von ihr verstanden worden. Und nun hatte sie ihn für immer von sich gescheucht. Nur die Erinnerung blieb ihr.

Es war einmal ihre Bestimmung, daß die Liebe, die Krone des Lebens, wie ein Schatten an ihr vorüber gehen sollte. Das erste Sehen: ein flüchtiger Augenblick; das erste Sprechen, die Offenbarung, daß sie zu einander gehörten: ein paar rasch hinschwindende Stunden. Und Sif neigte das Haupt wie draußen im Garten die letzte weiße Aster, vom scharfen Reif getroffen.


Es wurde Winter. Auf diesen Höhen schüttelt Frau Holle ihr Bett ganz anders als drunten in der Ebene. Von den kleinen Häusern dicht am Wald kam die Mär, die Leute hätten aus den Schornsteinen steigen müssen. Die Kinder, nur in ihren groben Hemdchen, hopsten wie die Frösche in die weißen Flaumen, die über ihnen zusammenschlugen. Das schadete ihnen nichts; denn gleich ging es dann hinter den heißen Kachelofen.

„Das sind die russischen Bäder der Waldleute!“ rief der Bibliothekar. „Glückliche Kinder! Ihnen werden nicht erst Strümpfe, dann Stiefel, dann Gamaschen, dann Höschen angezogen. Kein Muff ist in acht zu nehmen, wie im Sommer kein Kate Greenwayhut, der so beflissen die Sonne auf die aufgestülpte Nase herableitet. Fessellos liegen sie der alten Mutter Natur an der Brust, die sie einmal tüchtig mit Schnee abreibt, einmal ihnen bis ins Herz hinein Wärme gießt, unbekümmert darum, ob in der Haut ein Sommersprößchen aufkeimt.“

Sif ging still ihren Weg wie bisher. Nur wunderte sich ihr Vater, daß sie nicht mehr gerne spann.

Einmal wollte er sie dazu bereden, weil das Schnurren des Rades gut zu dem Knacken der Scheite im Ofen stimmte. Aber sie sagte sanft: „Es ist genug Leinwand für das Altjungferhäuschen vorräthig, um ein halbes Jahrhundert damit zu wirthschaften.“

Der Weg in den Wald war durch Schneewälle verbaut, das Mooshüttchen trug eine Haube aus weißem Flaum. Sif mußte sich in der Dämmerung mit dem Platz am Fenster begnügen.

Das letzte Abendroth schien durch die runden Scheibchen; von dem rosigen Grunde hoben sich die Gebilde ab, die der Frost mit zartem Finger darauf zeichnete. Da sah sie die Mauerzinnen mit dem Stachelbeerbüschchen zwischen allerhand großem Gekräut aufragen, und sie meinte die heitere Stimme sprechen zu hören: „Sueze Juncfrouwe“. Und dort ragten die Spitzen der alten Thürme in die Luft, wie sie damals ihren Augen erschienen waren, als er todtenbleich am Coupé stand. Der geliebte Schatten, der sie von ihrem Eintritt in die Jugend an begleitet hatte, schwebte an ihrer Seele vorüber. Das war ihr Theil am Glück.

Draußen aber knirschte ein elastischer Schritt über den Schnee. Der junge Forstgehilfe, die Flinte übergehangen, eilte vorüber. Er kam aus dem Wald, wo er die Futterplätze des Wildes mit Heu hatte versehen lassen; und trotz der grimmigen Kälte scheute er auf dem Heimgang nach der Försterei den Umweg an der Pfarre vorbei nicht. Und richtig! Mariechen stand an dem erleuchteten Fenster; der Schattenriß zeigte das hohe nickende Schöpfchen.

Und jetzt erklang Schellengeläut. Der Apotheker fuhr mit seinem wohlgenährten Schimmel die brave Eulalia vorüber, die ihm zu einem guten Geschäft gerathen hatte; beide waren, wenn nicht ein Herz und eine Seele, so doch ein Pelzmantel und ein Fußsack.

Unten aber aus der warmen Küche tönte Huldas schnappende Weise; ihre Spule war wieder einmal voll gesponnen. Des Schwumprichs Zither schwirrte dazwischen, und das Pärchen sang so einträchtig wie ein Paar Drosseln, die zu Neste tragen:

„Du, du liegst mir im Herzen.“

Ein leiser Seufzer hauchte durch Sifs stilles Zimmer: „Glückliche Menschen!“ – – –

Endlich war der kürzeste Tag, die längste Nacht herangekommen.

„Diesmal wird Sonnenwende richtig gefeiert von dem ganzen Ort auf dem großen Tanzboden des Sichelhammers,“ erklärte der Bibliothekar eines Abends in der Honoratiorenstube.

Und alt und jung, hoch und niedrig stimmte ein.

„Wir schlachten den Jul-Eber!“ fuhr er fort.

„Ach lieber gar, Herr Bibliothekar,“ sagte der Schulze. „Ein appetitliches Wurstschweinchen wird geschlachtet. Das giebt gute Braten.“

„Der Herr Forstgehilfe besorgt die Fichte, die wir zu Ehren der Sonnenwende anzünden.“

„Mit tausend Freuden, Herr Bibliothekar.“

„Wir zünden die Lichter an zur Feier der Geburt unseres Heilandes,“ verbesserte sanft der Pfarrer.

Der Bibliothekar gerieth in Eifer. „Bei unseren Voreltern erinnerten die brennenden Kerzen der Tanne an die Wiederkehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 440. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_440.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)