Seite:Die Gartenlaube (1889) 436.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

die Entwickelung der Gesellschaft, des Rechts und der Religion als die Ausstattung des Hauses und der gesammte Besitz an Geräthen und Schmuckgegenständen, an Hausthieren und Nutzpflanzen bald hier und bald da in ihrem allmählichen Aufbau erkennbar werden. Leider schwinden die Naturvölker in der Berührung mit den Kulturvölkern in erschreckender Schnelligkeit dahin, und es darf als ein besonderer Glücksfall betrachtet werden, daß die erhöhte Sorgfalt in der Beobachtung und Sammlung aller Eigenthümlichkeiten dieser versinkenden Ueberlebsel der Vorzeit wenigstens noch die letzte Zeit ihres Bestehens benutzt hat, um für die Zukunft nicht allein die Erinnerung, sondern auch wirkliche Objekte der Anschauung zu retten. So erklärt sich das Aufkommen und das gewaltige Anwachsen der ethnologischen Museen, unter denen das neue Berliner Museum für Völkerkunde einen so hervorragenden Platz einnimmt.

Der zweite Umstand, der in fast noch weniger geahnter Stärke die Richtung der neueren Forschung bestimmt hat, ist in der Umgestaltung der sogenannten Alterthumskunde zu einer wirklichen Vorgeschichte zu suchen. Nachdem schon seit den ersten Decennien dieses Jahrhunderts in vielen Staaten Europas die Sammlung der vaterländischen Alterthümer mit zunehmendem Interesse gefördert worden war, ist es namentlich der Thätigkeit unserer skandinavischen Nachbarn, der Dänen und Schweden, sowie dem Eingreifen verdienter deutscher Forscher zu verdanken gewesen, daß allmählich Ordnung und chronologisches Verständniß in dieses bis dahin ganz chaotische Gebiet gebracht worden ist. Die Entdeckung der schweizer Pfahlbauten hat dann den Eifer in ganz Europa entzündet, und die prähistorischen Museen gehören gegenwärtig zu denjenigen Anstalten, in deren Vervollständigung der Stolz jedes einzelnen Volkes gesetzt ist.

Hier, aus den Gräbern und Wohnplätzen der Vorfahren, thut sich vor unsern Augen ein neues Bild menschlicher Kulturentwicklung auf, und mit Staunen und Bewunderung sehen wir, wie dasselbe eine Art von Ergänzung zu dem Bilde der Entwicklung der Naturvölker darstellt, so daß das eine das andere erläutert. Wir erblicken unsere Vorfahren selbst auf dem Standpunkte der Naturvölker, in der gleichen Arbeit fortschreitender Erforschung der Mittel und Wege, wie die Natur dem Menschen dienstbar gemacht werden kann und wie uns der Arbeit des Tages allmählich die höheren Aufgaben eines idealen Strebens hervorwachsen.

So hat sich vor die eigentliche Kunstgeschichte die Geschichte der Arbeit gesetzt, eine lange Geschichte, die in der fernsten Vorzeit begonnen hat und die sich noch immer fortsetzt und fortsetzen wird. Eine Grenze zwischen beiden giebt es nicht, denn niemand kann sagen, wo die Kunst beginnt und wo die Arbeit des täglichen Lebens endet. Die Kunst geht aus der Arbeit des Tages hervor wie die Blüthe aus einer Knospe. Geschichte und Vorgeschichte sind nur äußerlich getrennt, innerlich hängen sie untrennbar zusammen. Gleichwie es eine Vorgeschichte auch der heutigen Naturvölker giebt, so ziehen sich vorgeschichtliche Ueberlieferungen in das Leben der Kulturvölker herüber. Diese Ueberlieferungen aufzufinden und festzuhalten, ist eine nicht minder wichtige Aufgabe für das Kulturverständniß wie die Vorgeschichte selber; denn gerade sie liefern uns die Fäden, an welche wir die Zusammenhänge von jetzt und vordem in unmittelbarer Verbindung anreihen können.

Derartige Zusammenhänge ältester Tradition bieten in erster Linie Sprache und Sage. Sie zu verfolgen, bedarf es keiner Museen. Aber in zweiter Linie sind es wirkliche, materielle Gegenstände, und zwar Gegenstände des Gebrauches, an welche sich freilich nicht selten alterthümliche Bezeichnungen und sagenhafte, meist abergläubische Deutungen knüpfen, welche aber auch ohne solche durch ihre Form, ihre Verzierung, ihre Verwendung bestimmte Andeutungen des Alters darbieten. Diese Gegenstände zu sammeln, ist die Aufgabe des Museums der Trachten und Geräthe, welches wir vorhaben, nicht die einzige, denn es giebt auch in der historischen Entwicklung der Völker viele Stadien, welche in Tracht und Geräth ihre Erinnerung hinterlassen, aber eine vorzügliche. Ein Museum der Trachten und Geräthe schließt daher die Lücke zwischen den ethnologischen und prähistorischen Museen einer-, den historischen Museen andererseits. Es wird für unser Volk dasjenige thun, was die ethnologischen Museen für die fremden, insbesondere die Naturvölker gethan haben; es wird in der Gegenwart Gegenstände auffinden lassen, wie sie die prähistorischen Museen aus den Gräbern und Wohnplätzen der Vorzeit aufdecken; es wird für das gewöhnliche Thun und Treiben der Völker leisten, was die historischen Museen vorzugsweise für das kirchliche und höfische Leben zu Stande bringen.

Die Erwartungen, welche sich an ein Museum der Trachten und Geräthe knüpfen, dürfen daher hoch gespannt werden. Die Erfahrung widerlegt die so häufig geäußerte Besorgniß, als sei es jetzt schon zu spät, an eine solche Aufgabe zu gehen. In der That hat schon unser Anfang gelehrt, daß man auch in Deutschland nur ernsthaft nachzufragen und zuzugreifen hat, um zahlreiche Gegenstände der altertümlichen Tradition zu erlangen. In anderen Ländern ist der Erfolg ein geradezu glänzender gewesen. So namentlich in Schweden, welches durch die unermüdliche Thätigkeit des Herrn Hazelius seit Jahren ein wahres Mustermuseum dieser Art in Stockholm besitzt. Auch in Moskau und Amsterdam sind sehr bemerkenswerthe Ansätze zu ähnlichen Einrichtungen vorhanden.

Freilich darf man die Erwartungen auch nicht zu sehr in die Höhe treiben. Was namentlich die Tracht als solche betrifft, so versteht es sich von selbst, daß dasjenige, was man in etwas zu volltöniger Weise wohl als Nationaltracht bezeichnet, als Ganzes niemals in die prähistorische Zeit zurückreicht. Damals gab es nichts, was diesen sogenannten Nationaltrachten glich. Nur bei solchen Völkern, von denen einzelne Stämme in einer Art von Naturzustand verharrten, andere in die allgemeine Kulturbewegung eintraten, kann so etwas vorkommen. Aber das ist in Europa nur bei den finnischen Stämmen der Fall. Bei allen arischen Völkern Europas ist die Nationaltracht ein verhältnißmäßig junges, ja man darf wohl im allgemeinen sagen, ein modernes Produkt, und speziell in Deutschland, wo sich immer nur an einzelnen beschränkten Stellen, zuweilen nur in einzelnen Dörfern, noch solche Trachten finden, dürfte wohl keine derselben über das 15. Jahrhundert hinausreichen. Nicht wenige sind sicherlich erst durch die Reformation fixirt worden. Vielleicht wird die thatsächliche Sammlung des Materials zu vergleichenden Studien Veranlassung bieten, welche noch ältere Daten ergeben, aber gewiß wird sich das mehr auf einzelne Theile der Tracht beziehen.

Schon weit dauerhafter als in der Tracht sind die Menschen in ihrem Hausbau, ihren landwirthschaftlichen und thierzüchterischen Gewohnheiten, ihrem Hausgeräth, ihren Werkzeugen. Insbesondere das Geräth aus Stein, aus Knochen und Geweihen, aus Thon hat eine große Beständigkeit. Die Grundeinrichtung des Hauses erhält sich trotz aller Zusätze, welche die Ausdehnung der Wirthschaft und die Bequemlichkeit des größeren Besitzes mit sich bringen. Sie ist in Bezug auf die Familie ebenso dauerhaft wie die Anlage der Orte und die Eintheilung der Flur in Bezug auf die ganze Gemeinde.

Nun lassen sich ganze Häuser ebenso wenig wie ganze Orte oder Gemarkungen in einem Museum vorführen, es sei denn in Modellen oder Zeichnungen. Auf diese wird Bedacht genommen werden. Aber wohl lassen sich Zimmer und Stuben in ihrer ganzen Einrichtung vorführen, und wir hoffen, schon bei der Eröffnung des Museums, vielleicht noch in diesem Jahre, Zimmer von Mönkgut, aus dem Spreewalde, aus dem Elsaß, aus Hessen und Litauen zeigen zu können; damit wird wenigstens in Bezug auf den wichtigsten Abschnitt des Hauses, den von Menschen bewohnten Theil, ein Gesammteindruck hervorgebracht werden, dessen Bedeutung gegenüber dem losen Nebeneinander vieler Einzelstücke, die natürlich auch aufgestellt werden müssen, wir hoch anschlagen. Die Praxis der Einrichtung wird vielleicht neue und erhebliche Gesichtspunkte ergeben, um auch noch größere Theile des Hauses vorzuführen; vorläufig denken wir uns auf das Mitgetheilte zu beschränken.

Und so möge denn das neue Unternehmen der thätigen Mitwirkung recht vieler unserer Landsleute empfohlen sein. Wir wissen es wohl, daß das Volk selbst am besten unterrichtet ist, wo die Schätze verborgen sind, die wir aufzudecken wünschen; darum wenden wir uns auch vertrauensvoll an dasselbe, damit es uns helfe, das Stück nationaler Erinnerungen, das in Tracht und Hausgeräth noch erhalten ist, in recht vollständiger Weise zu gewinnen und der Anschauung der Nachkommen zu bewahren.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_436.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)