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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Eine gute Folge solcher unter Männern unerhörten Redseligleit ist die Fertigkeit der Kirgisen, ihre Sprache zu handhaben. Hierin scheinen sich alle gleich zu sein, die Reichen wie die Armen, die Vornehmen wie die Geringen, die Gebildeten wie die Ungebildeten. Ihre tonreiche und klangvolle, wenn auch harte Sprache, eine Mundart der tatarischen, ist ungemein ausdrucksvoll. Jedes Wort wird vollständig ausgesprochen, jede Silbe richtig betont, so daß man meint, nach dem Klange beurtheilen zu können, um was es sich handelt. Die Redeweise ist sehr lebhaft, der Tonfall des Redesatzes dem Inhalte entsprechend, Rede und Redepause genau abgemessen, so daß ein Gespräch etwas abgebrochen klingt, obschon der Fluß der Rede keinen Augenblick lang stockt. Ein für sich selbst sprechender Gesichtsausdruck und lebhafte Handbewegungen erläutern außerdem die Worte. Fesselt ein Gegenstand in besonderer Weise, so steigert sich die Lebendigkeit der Redenden bis zur Hitze, so daß man meint, auf Worte möchten Tätlichkeiten folgen. Doch endet auch das hitzigste Wortgefecht regelmäßig in Ruhe und Frieden.

Daß unter solchen Leuten der Barde zur Geltung gelangt, ist begreiflich. Ein Sänger, ein Gelegenheitsdichter darf bei keinem Feste fehlen. Seine Gestaltungsgabe braucht nicht eben hervorragend zu sein, seine Rede muß nur ohne Unterbrechung fließen und in ein bestimmtes, jedem geläufiges Versmaß sich fügen, um ihn zum Dichter zu stempeln. Doch verfügt jeder kirgisische Barde immerhin über einen nicht eben kärglichen Schatz von dichterischen Gedanken, welche in Worte zu kleiden ihm nicht schwer fällt. Das Hirten- und Wanderleben, so gleichförmig es im ganzen verfließen mag, hat seine Reize, seine tönenden Saiten, welche nur angeschlagen zu werden brauchen, um die Herzen der Hörer zu erheben. Viele Sagen und Ueberlieferungen, welche in allen lebendig sind, bieten jederzeit geeigneten Stoff zur Ausfüllung von Gedankenlücken. Jeder Barde begleitet seine Rede mit der dreisaitigen kirgisischen Zither und verbindet die einzelnen Sätze durch Zwischenspiele, welche so lange währen, bis der neue Vers in die rechte Form gegossen ist. Je rascher, je gewandter dies geschieht, um so höher steigt der Ruhm des Sängers. Regt sich aber vollends im Herzen einer Frau dichterischer Drang, so ist solche Frau der allgemeinsten Bewunderung sicher, und läßt sie sich herbei, mit einem Manne im Zwiegesange zu wetteifern, so wird sie von der begeisterten Menge über alle anderen ihres Geschlechts erhoben.

Ungleich weniger günstig als für die Dichtung ist die weite Steppe für regelrechten Unterricht. Daraus erklärt sich zur Genüge, daß die Kenntniß der Schrift unter den Kirgisen ebenso selten wie das Schriftthum gering ist. Nur die Söhne der Reichsten und Vornehmsten des Volkes erhalten Unterricht im Lesen und Schreiben. Ist den beiden von der Regierung gegründeten Schulen in Ust-Kamenogorsk und Saisan werden allerdings auch, in ersterer Stadt sogar ausschließlich, kirgisische Knaben unterrichtet, allein die Wirksamkeit beider Anstalten erstreckt sich nicht bis in die innere Steppe. Hier lernt der Knabe lesen und schreiben, wenn der Zufall will, daß er mit einem Mollah zusammenkommt, welcher ebenso Lust zum Lehren wie der Knabe Trieb zum Lernen empfindet. Auch dann beschränkt sich der Unterricht auf die einfachsten Kenntnisse, arabische Schriftzeichen lesen und nachbilden zu können. Der Inhalt des vornehmsten, wenn nicht ausschließlichen Lehrbuches, des Koran, erschließt sich in der Regel nicht einmal dem Mollah selbst; er liest die Suren, ohne deren Inhalt zu verstehen. Ich habe nur einen einzigen Kirgisen, und zwar einen Sultan, kennen gelernt, welcher Arabisch verstand; alle übrigen, welche sich durch ihre Kenntniß der Worte der Schrift über andere ihres Volkes erhoben und als getreue Anhänger des Islam regelmäßig die fünf vorgeschriebenen Gebete sprachen, verstanden im günstigsten Falle den Inhalt der Worte des Rufes zum Gebete und der ersten Sure des Koran; alles übrige sprachen sie zwar mit dem allen Mohammedanern anerzogenen Ernste, aber ohne Verständnis nach.

Das Bewußtsein der Kraft und Gewandtheit, der Geschicklichkeit im Reiten und Jagen, der dichterischen Begabung und Regsamkeit des Geistes überhaupt, das Gefühl der Selbständigkeit und Freiheit, welches die weite Steppe hervorruft, verleiht dem Auftreten des Kirgisen Sicherheit und Würde. Der Eindruck, welchen er auf den unbefangenen Beobachter macht, ist daher ein sehr günstiger, und dieser Eindruck steigert sich um so mehr, je genauer man unseren Steppenbewohner kennen lernt. Geweckten Geistes, klug, lebhaft, verständig, so weit es sich um ihm bekannte Dinge handelt, gutmüthig, dienstfertig und zum Helfen bereit, artig und zuvorkommend, gastlich und barmherzig, stellt er sich als ein in seiner Art vortrefflicher Mensch dar, dessen Schattenseiten man um so leichter übersieht, je unbefangener man ihm gegenübertritt. Er ist höflich, ohne knechtisch zu sein, behandelt den über ihm Stehenden mit Achtung, aber nicht kriechend, den ihm Untergebenen freundlich, aber nicht geringschätzig. Auf ihm gestellte Fragen antwortet er meist erst nach kurzem Besinnen, dann aber ruhig und klar, und seine scharf betonte Sprechweise verleiht seiner Antwort den Ausdruck der Bestimmtheit. Er ist gefällig nach allen Seiten hin, aber mehr aus Ehrgeiz als aus Hoffnung auf Gewinn, mehr in der Absicht, Lob und Beifall, als in der Voraussetzung, Geld und Geldeswerth zu ernten.

Im Einklange mit solchem Ehrgeize steht, daß der Vornehme auf seine Abkunft und Familie stolz ist, sich seiner Ahnen rühmt und unter Umständen seinen Stammbaum bis Chingis-Chan zurückführt, daß er nur ebenbürtig sich vermählt und keinen Makel an seiner Ehre duldet, keine diese Ehre kränkende Beleidigung verzeiht. Hiermit im Einklange steht aber auch eine Eitelkeit, wie man sie bei ihm kaum erwarten sollte. Doch unterscheidet er sich von einzelnen schönen und jungen Herren unseres Volkes wesentlich dadurch, daß er niemals zum Gecken ausartet. Er rühmt sich der ihm vom Geschick wie von der Natur verliehenen Gaben offen und ohne Hehl; solches Rühmen aber steht ihm natürlich und wird nicht durch absichtlich sich hervordrängende Bescheidenheit verzerrt. So weit seine Mittel gestatten, ist seine Kleidung reichverziert, Rock und Beinkleider mit Tressen, die Pelzmütze mit der Uhufeder. Daß die Frauen mehr noch als die Männer ihre Reize ins hellste Licht zu setzen suchen, erscheint selbstverständlich; und es hat mich daher auch durchaus nicht gewundert, zu erfahren, daß sie mit dem Safte einer Wurzel ihren Wangen ein ebenso zartes und duftiges wie haltbares Roth auflegen, zu Deutsch: sich schminken.

Willig fügt sich der Kirgise in die Sitten und Gebräuche seines Volkes. Seine Bildung und Gesittung bethätigt er hauptsächlich dadurch, daß er die aus unbestimmbarer Zeit auf ihn überkommene und durch den Islam wesentlich beeinflußte Gebräuchlichkeit streng befolgt. Dies bedingt natürlich Förmlichkeit und Umständlichkeit im gegenseitigen Verkehre.

Schon die gegenseitige Begrüßung geschieht in einer sehr förmlichen, von allen festgehaltenen, also offenbar genau bestimmten Weise. Wenn zwei Kirgisentrupps zusammenkommen, vergeht stets geraume Zeit, bevor jeder dem andern seinen Gruß gespendet hat. Gegenseitig und gleichzeitig legen sie ihre Rechte auf die Herzgegend, die Linke gegen die rechte Hand des anderen, worauf beide die rechte von der Brust wegziehen und mit der linken vereinigen, so daß jetzt alle vier Hände auf einen Augenblick sich berühren. Gleichzeitig mit der Umarmung sprechen beide das arabische Wort „Amán“ (Friede) aus, wogegen sie vor dem Umfassen sich den Gruß aller Mohammedaner: „Salám alëik“ oder „alëikum“ (Heil sei mit Dir oder Euch!) zu spenden pflegen. In dieser Weise begrüßt einer alle und jeder den andern; beide sich begegnenden Haufen bilden daher zwei Reihen, und einer nach dem andern läuft, um der jetzt noch gebannten „rothen Zunge“ baldmöglichst volle Freiheit zu gewähren, rasch längs solcher Reihe dahin. Das kürzere Verfahren, welches jedoch nur bei sehr zahlreichen Versammlungen angewendet wird, besteht darin, sich nur die Hände entgegenzustrecken und diese zusammenzuschlagen.

Besuchen sich Kirgisen im Aul (Dorf), so findet vor der Begrüßung noch eine andere Förmlichkeit statt. Angesichts der Jurten (Zelte) zügeln die Ankömmlinge ihre Rosse, lassen sie im Schritt gehen und halten endlich still. Auf dieses Zeichen kommt man ihnen vom Aul aus entgegen, begrüßt, sie und geleitet sie nunmehr zu den Jurten, welche die Frauen inzwischen durch Ausbreiten der werthvolleren Teppiche geschmückt haben. Fremde, im Aul noch unbekannte Gäste müssen sich vor der Begrüßung einem Verhöre nach Namen, Stand und Herkunft unterwerfen; ausgenommen und gastlich bewirthet aber werden sie unter allen Umständen, denn Gastfreundschaft übt der Kirgise gegen jedermann, ohne Unterschied des Standes oder Glaubens, obschon er Vornehme stets bevorzugt. Der Gast tritt mit dem üblichen Gruße ins Innere der Jurte und setzt sich, wenn er dem Wirthe an Ansehen gleich steht, auf dem Ehrenplatze nieder, während der Geringere dem Vornehmen gegenüber sich bescheiden zurückhält und in knieender Stellung auf den Teppich niederläßt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 363. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_363.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)