verschiedene: Die Gartenlaube (1889) | |
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No. 22 | 1889. | |
Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Nicht im Geleise.
Daß Tage so lang, so endlos lang sein können, hatte Gerda nie gewußt. Bis zu dieser Zeit war ihr Leben so ausgefüllt gewesen von hundertfältigen Dingen, daß sie die Stunden, welche ihrem Knaben gehört hatten, immer hatte vertheidigen müssen gegen zahllose Anforderungen, die sich als wichtig gebärdeten.
Ein großer Kreis von Freunden hatte sich schon, als ihr Gatte noch lebte, daran gewöhnt gehabt, in ihr den allezeit rath- und thatbereiten Schutzgeist zu sehen. Ihre litterarischen Freunde erwarteten ein förderndes und ehrliches Urtheil über neu von ihnen herausgegebene Bücher. Dafür mußte sie so viel lesen. Ihre musikalischen Freunde wollten ihr zuerst Neuschöpfungen vortragen. Dafür mußte sie Zeit opfern, um zu hören. Dann war dieser und jener verreist und wollte in der Ferne gerade nur von ihrer Feder die Ereignisse von daheim geschildert lesen. Oder es gab Patienten, und sie mußte pflegen helfen. Besuche kamen jeden Tag. Die Zeit flog wie ein Wirbelwind vorüber, und oft klagte Gerda: „Vor lauter kleinen Pflichten komme ich kaum noch zur Erfüllung meiner großen Pflicht.“ Aber in der That begleitete sie bei allen Dingen immer der fürsorgende Gedanke für ihren Knaben, und ihr Leben voll weltlicher Interessen hatte seine junge Seele doch um nichts gebracht. Seine Ernährung, seine Beschäftigung, die Eindrücke, die von draußen zu ihm kamen, waren Gegenstand ihrer fast angstvollen Aufmerksamkeit, Sie hatte auch sechs Jahre lang die Hoffnung hegen dürfen, daß sein überzarter
verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1889, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_357.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)