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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

wird Gelegenheit geboten, ihre Geschicklichkeit auf dem Zwei- oder Dreirad zu bethätigen. Für sie sind bequeme Aufstiege und Damensitze vorgesehen. Transportfahrräder für Geschäftsleute mit einer Tragfähigkeit von mehreren Centnern ergeben sich als recht praktische Einrichtungen, Renn- und Tourenmaschinen für beide Geschlechter, für jedes Alter, doppel- und mehrsitzige Fahrzeuge bieten sich uns dar. Vier- und Dreiräder lassen sich durch leichte Handgriffe in Drei- und Zweiräder umwandeln. Wir sehen Ein-, Zwei-, Drei-, Vierräder, ja einige Modelle lassen ahnen: selbst das „fünfte Rad am Wagen“, das bisher nur bei Pferdebahnwagen, z. B. in Hamburg, zu Ehren kam, wird auch beim Velociped noch den üblen Ruf, der an ihm haftet, Lügen strafen. Wir vermögen nicht aller Vortheile und Neuerungen zu gedenken, welche die Zeit gebracht hat, das kann nur Sache der Fachzeitschriften sein; aber einige der beachtenswerthesten Erscheinungen wollen wir noch hervorheben. Da wird uns zunächst von der Firma Dumstrey u. Jungk in Berlin eine als Vierrad erbaute Velocipeddroschke „Sultan“ vorgeführt, ein Versuch, dem es nicht an Originalität fehlt und der ein viel angestauntes Kuriosum der Ausstellung bildete, aber wohl niemals die Charaktertypen der alten Droschken mit ihren Kutschern und Gäulen, wie sie jetzt an den Straßenecken unserer Städte halten, verdrängen wird. Wir sahen den beiden von der Anstrengung keuchenden Fahrern an, daß hier nur Pferdenaturen etwas auszurichten imstande wären. Eine weitere auffallende Erscheinung, wenigstens für Deutschland, ist der von der Firma Paul Focke u. Komp. in Leipzig ausgestellte zweirädrige Ponywagen, welcher nach dem Prinzip der Fahrräder errichtet ist und dessen hohle Stahlachse auf vier Kugellagern läuft, wodurch der denkbar leichteste Gang herbeigeführt wird, da die Reibung der Lager auf einen bisher unerreichten Punkt herabgemindert wird. Das Gefährt zeichnet sich durch ein gefälliges Ansehen aus und ist wie kein anderer Wagen dazu geeignet, das Pferd auch bei schneller Gangart zu schonen.

Das Hauptinteresse der Ausstellungsbesucher nahm aber mit Recht eine andere Erfindung in Anspruch, welche ebenfalls von einem Deutschen, A. v. Wedell, herrührt. Das „Kaiserrad“ oder „Gesundheitsvelociped“ hat die Aufgabe gelöst, die Einseitigkeit der Muskelbewegungen, wie sie bisher durch das Fahrrad bedingt war, aufzuheben und den gesammten Muskelapparat des menschlichen Körpers in Thätigkeit zu versetzen. Arme und Beine arbeiten hier zusammen! Die Arme haben vollkommene Ruderbewegungen auszuführen, wodurch gleichzeitig eine Kräftigung der Arm- und Brustmuskeln, mithin des ganzen Organismus erreicht wird. Wir geben auf S. 285 eine Abbildung des Kaiserrades, das übrigens auch als Dreirad hergestellt wird. Die eigenartige Bauart desselben unterscheidet sich von derjenigen anderer Zwei- oder Dreiräder dadurch, daß die sonst feste Lenkstange, die den Händen bisher einen unbeweglichen Stützpunkt gewährte, beweglich gemacht und mit zwei parallel gerichteten Kurbeln (ma) versehen ist. An diesen Kurbeln befinden sich die drehbaren Griffe (hh), mittelst deren die Hände die Fortbewegung ausführen. Die drehende Bewegung der Kurbeln bezw. der Lenkstange wird nun durch die Kette (cc) von dem Kettenrad g′ auf das an der Achse des Vorderrades befindliche Kammrad g übertragen, und zwar ist das letztere mit einer Sperrvorrichtung versehen, die es dem Fahrenden ermöglicht, jederzeit die Armbewegung auszusetzen, die Hände ruhen und die Beine allein arbeiten zu lassen. Wünscht man ein gewöhnliches Zwei- oder Dreirad zu erhalten, so kann der ganze Triebmechanismus für die Hände im Punkte d abgeschraubt und an seiner Stelle eine gewöhnliche Lenkstange aufgesetzt werden. Da die Bewegung der Arme jeden Augenblick unterlassen werden kann und dem Fahrer sozusagen nur als Kraft zweiten Aufgebotes zur Seite steht, so ergiebt sich hieraus von selbst, daß eine Ueberanstrengung der Armmuskeln nur dann eintreten kann, wenn der Fahrende dieselben aus eigenem Antriebe über Gebühr in Thätigkeit setzt. Aber nicht nur vom hygienischen Standpunkte aus betrachtet kommt der neuen Vorrichtung eine hohe Bedeutung zu, sie ist auch von praktischem Werthe insofern, als das Berganfahren und das anhaltende Fahren gegen den Wind durch Zuhilfenahme einer zweiten Kraft erheblich erleichtert wird.

In den Nebensälen hatte die Bekleidungsindustrie ihre Erzeugnisse ausgebreitet. Da fanden wir bis ins Kleinste die vollständige Ausrüstung des Radfahrers, von dem leichten Helm aus Palmengeflecht bis zu dem Fahrschuh herab, dessen geriefte Sohle sich den Gruben der Radpedale anpaßt und so dem Fuß einen festen Halt verleiht.

Der Haupterfolg der Ausstellung ist darin zu erblicken, daß durch sie dargethan worden ist, welch mächtigen Aufschwung die deutsche Industrie in den letzten Jahren auf dem Gebiete des Fahrradwesens genommen hat. Bisher ging noch immer eine Masse Geldes für Fahrraderzeugnisse nach England, aber das wird nun anders kommen. Deutschland hat die ursprünglich deutsche Erfindung, das Fahrrad, welche es eine Zeit lang an das Ausland verloren hatte, zurückgewonnen, die Ausstellung hat es erwiesen; aber sie hat noch mehr gezeigt, daß nämlich die heimische Industrie sich der bisher als unerreicht geltenden englischen durchaus ebenbürtig zur Seite stellen kann, ja daß die deutschen Fabrikate die ausländischen in vielfacher Hinsicht übertreffen. Max Hartung. 




Lore von Tollen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Der Doktor stieg in seine Stube hinauf, in der Absicht zu arbeiten, und ertappte sich eine halbe Stunde später, am Fenster stehend, in Gedanken an Lore.

Er hatte sich eben ihr stilles, schönes Gesicht unter der Haube der Diakonissinnen vorgestellt. Sie war also doch nicht in Berlin, allein um zu leben; sie wollte, wie es schien, bereuen in guten Werken. Er zuckte die Schultern und zündete sich die Lampe an; es war zu finster, um die feine Schrift zu erkennen in dem Manuskript. Das vor ihm war eine wissenschaftliche Arbeit, die ihm einen Namen in der Welt der Gelehrten schaffen sollte. Es beanspruchte alle seine Kräfte, dieses Werk „Ueber die Reformation in der Altmark“.

Wenn er nur seine Gedanken zu bannen vermöchte! Er war nicht mehr imstande, sich ganz in das Jahr 1540, in das Kloster der Augustinerinnen zu Diesdorf zu versetzen, allwo damals eine der Nonnen – Ursula von Ritzebüttel – das Kloster heimlich verließ, um sich der neuen Lehre zuzuwenden. Immer und immer nahm diese abtrünnige Nonne Lores Gestalt an; er sah sie durch die Kreuzgänge huschen, sah sie zum letztenmale in der schönen Klosterkirche niederknieen und kindlich die Jungfrau anflehen um Vergebung ihrer Sünde; und er sah sie bei dem Rauschen des Gewittersturms durch den Baumgang eilen in Nacht und Finsterniß, dem Licht, der Aufklärung entgegen. Aber es war nicht Ursula, es war Lore, und sie barg sich nicht im Häuslein des lutherischen Geistlichen, sie floh an seine Brust.

Welch ein Wahnsinn, der ihn verfolgte in all seinem Thun und Lassen, in der Schulstube, auf seinen Spaziergängen, überall! Gewaltsam zwang er seine Gedanken zu Käthe hin.

Er warf die eben ergriffene Feder auf das Schreibzeug zurück und schritt auf und ab. Käthe war verletzt gegangen, zum erstenmal verletzt heute; ihr Lebewohl stach seltsam ab gegen sonst und es that ihm leid, ihr wehgethan zu haben.

Er setzte sich abermals an den Tisch und begann an sie zu schreiben. Zuerst stockte die Feder, dann jagte sie förmlich über das Papier, und als er vier Seiten fertig hatte und sie überlas, lachte er und zerknitterte den Bogen in der Hand. Ein schönes Schriftstück! Es war so väterlich, so vernünftig; er hatte darin von seinem Herzen gesprochen, das durch sie zu genesen hoffe, sie gebeten, daß sie Geduld mit ihm haben möge; – von Liebe kein Wort. Wenn sie es las, mußte sie fragen: „Ja, was soll denn das alles, gesteh’ es doch gleich ehrlich, Du liebst mich nicht, Du kannst Lore nicht vergessen! Geh’, hole sie Dir, sie ist ja frei, und laß mich!“ Er sah ihre weinenden schönen Augen, und er hielt sich die geballte Faust vor die Stirn.

„Es wäre schuftig,“ sagte er halblaut, „ein schöner Dank für ihre Liebe! Sie hat mein Wort, ich werde es halten – unglücklich soll sie nicht werden!“ Und abermals zwang er sich dann zu seiner Arbeit. – –

Käthe war inzwischen in der Loggia der Villa drüben jubelnd empfangen worden. Die Herrschaften, von der Spazierfahrt heimgekehrt, saßen in dem schönen Raum bei Tische, der Kommandeur und seine Frau, sowie Rittmeister von Schlieben mit seiner jungen Frau aus dem oberen Stock. Man war eben beim Dessert; eine Schale Erdbeeren duftete auf der elegant ausgestatteten Tafel, und am Nebentischchen brauten Gusti, die junge Tochter des Hauses, und Herr von Wegstedt eine Bowle.

„Wie schade,“ rief Gusti, „daß Du nicht dabei warst, Käthe! Herr von Wegstedt und ich haben einen Wettritt gemacht.“

„Ich denke, Du bist gefahren?“ fragte Käthe.

„Nun, weil Du absagtest, überließ ich Papa den Wagen und ritt mit Schliebens. Du mußt auch reiten lernen, Käthe. – Ist die Bowle gut, Herr von Wegstedt?“

„Famos!“

„Hast Du nicht Lust, Käthe? Papa kann Dir Reitstunde geben.“

„Und ich,“ rief der kleine Lieutenant.

„Mama erlaubt’s nicht,“ sagte Käthe seufzend, die im offenen Bogen lehnte und wie im Traum über das Bild vor sich sah.

Der Diener hatte Windlichter auf den Tisch gestellt, an dem die verheiratheten Herrschaften saßen und plauderten, die stattliche Mutter Gustis, der Kommandeur, der seinen Ueberrock etwas geöffnet hatte und eine kurze Pfeife, der Mücken wegen, rauchte, und der schlanke Rittmeister mit seiner zarten Frau, die so allerliebst

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