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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Mit geschlossenen Augen lag das junge Weib da. Die alte Mutter, von der grauenhaften Lage doch einen Augenblick überwältigt, rang in verzweiflungsvollem Schmerz die welken Hände, und der fremde Gast, im Drange zu helfen, schaukelte heftig die Wiege, um die weinenden Kinder zur Ruhe zu bringen. Draußen sang in fürchterlicher Harmonie die wachsende Fluth.

Nanninga fand zuerst sich wieder. „Faßt an, faßt an!“ befahl sie dem Fremden, „sie ist nicht bei Sinnen, so geht’s am besten.“ Indem sie die Füße der regungslos liegenden Kranken ergriff, bedeutete sie ihn, den Oberkörper zu stützen, und so trugen sie Beta in den dunklem Vorraum, brachten sie mit unsäglicher Anstrengung die steile Leiter empor auf den kalten Hausboden, wo der Wind pfiff und schneidende Kälte herrschte. Hier ward Beta an trockenes Dünengras gelegt und vorläufig in der Finsterniß sich selbst überlassen. Es galt noch zwei kleine Menschen zu retten. Schon wollte der hilfreiche Gast die Wiege heben, als Nanninga sagte: „Halt doch! halt! Die Jungens schreien sich ja todt, ich habe noch ’n Rest Schafmilch stehen.“ Nach zwei Minuten kam sie aus der Küche mit zwei steinernen Flaschen, die durch kleine Schwämme geschlossen waren, legte dieselben den Kindern an die Mündchen, und sofort wurden diese stille. Nun ward auch die Wiege nach oben geschafft, doch nicht, bevor der glimmende Kien und der letzte Funken im Ofen gelöscht.

Die Nacht in ihrer finstersten Gestalt war hereingebrochen. Das Wasser stieg und stieg; schon war die Hallig Olderog bedeckt und leckten tausend Zungen an der Schwelle von Nanningas Hütte; losgerissene Eisschollen trieben in der schäumenden Fluth und knirschten gegen einander; noch immer heulte der Sturm und trieb zu neuer Höhe das wogende Meer; aus schweren Wolkenballen stürzten unermeßliche Regenmassen herab; wenn aber an einer schwächer bedeckten Stelle am Himmel der Wolkenschleier zerriß, dann schaute kein tröstlicher Stern herab, sondern der fahle Schein des Mondes huschte über die erregten Gewässer.

So gut es in der Dunkelheit ging, hatte Nanninga in der nach Osten liegenden Ecke des Hausbodens, wo der Anprall der Wellen etwas geringer als im Westen sein mußte, ein Lager für ihre Lieben eingerichtet. Sie selbst suchte durch die Luke noch einen Blick über die fortschreitende Verheerung zu gewinnen, doch nichts wie Finsterniß und Grauen bot sich dar und der niederpeitschende Regen zwang sie, die Oeffnung rasch zu schließen. Das Häuflein Menschen hockte zusammen und fühlte unter sich die Pfeiler des Hauses wanken. Die Kranke schrie nach Mann und Kindern, stieß wilde Verwünschungen aus gegen die grausame See oder flüsterte irre Gebete, in denen der Name Arnt fortwährend wiederkehrte. Ueber der alten Friesin Lippen kam kein Laut; weder Flüche noch Gebete hatte diese starke Seele in der Gefahr. Sie bettete den Kopf der kranken Tochter in ihren Schoß und streichelte ihr die heißen Wangen; sie netzte die trockenen Lippen mit Wasser, besänftigte durch ihre Ruhe die Aufregung, welche auch des fremden Mannes sich bemächtigt hatte, und liebkoste die Katze, die, dem Erhaltungstrieb folgend, Schutz suchend vor Nanningas Knieen miaute. Nur die beiden Schafe verhielten sich still im Heu; sie waren satt und lagen trocken; weiter reicht das Bedürfniß dieser Thiere nicht.

So vergingen einige Stunden, die zu qualvoller Ewigkeit sich dehnten; da schrie der fremde Mann, dessen Spannkraft zu Ende war, laut auf: „Hilfe, Hilfe, Brot, Brot!“

Wahrhaftig, Brot! Das hatte Nanninga doch vergessen, und der Gast, welcher schon am Tage eine weite Fahrt gemacht, konnte vor Hunger und Entsetzen vielleicht rasend werden. Noch würde es ja gehen, aus den unteren Räumen Brot zu holen, es mußte gehen. Ohne Säumen stieg die alte zitternde Frau in den bereits brausenden Schlund; sie stand fest auf den Füßen, als das eisige Wasser ihr fast bis unter die Arme stieg, sie wußte, der letzte Brotlaib mußte noch trocken liegen; er war in einem hochhängenden Spind verwahrt.

Keinen Augenblick verlor die alte Frau die Besinnung. In der gähnenden Finsterniß tappte sie, bis sie das Gesuchte fand. Dann hastete sie zurück, weil Balken und Pfosten knirschten und Eisschollen gegen die Wände donnerten. Kaum war sie oben angelangt, von Nässe und Kälte, nicht von Furcht geschüttelt, da – ein schrilles Reißen und Brechen und – die nach Westen gerichtete Seite des Hauses stürzte zusammen, in den offenen, wankenden Giebel fanden Sturm und Regen ungehinderten Eingang.

„Hilfe! Hilfe!“ kreischte der Mann, und die Kranke lallte unverständliche Worte; das Wimmern der Kinder ward im wahnsinnigen Getöse der Elemente nicht mehr vernommen.

Hilfe? Selbst die alte Friesin lachte kurz und bitter auf. Hilfe? Auf Meilen an der Festlandsküste und auf allen friesischen Inseln kämpften jetzt Tausende mit der gleichen Noth; das wußte Nanninga nur zu gut.

„Ruhe, Herr, wir müssen aufs Dach, denn der Boden weicht.“

Die Entschlossenheit der weißhäuptigen Alten gab dem Fremdling die Besonnenheit zurück. Die alte Frau reichte ihm ein Stück von dem Brot, hieß ihn einen tiefen Trank aus dem Eimer thun und trank selbst; dann machten sie sich daran, Beta auf das Dach zu bringen. Nach manchem Versuche glückte es dem Manne, festen Fuß auf der abschüssigen Fläche zu fassen und mit der Kraft der Verzweiflung den Körper der Kranken empor zu ziehen.

„Haltet sie fest, recht fest!“ befahl Nanninga, „der Giebel hält noch, er wird von dem Schafstall gestützt; mit den Zwillingen komme ich schon nach.“

Wirklich nach kurzer Zeit kletterte die alte Frau mit keuchendem Athem, zwei festgedrehte Bündel tragend, in denen je ein Kindlein steckte, zu dem Manne empor. Hinter ihr krachte der Boden zusammen.

* * *

Am andern Tage herrschte Kirchhofsruhe an den gesammten deutschen Nordseeküsten. Ueberall hatte die Sturmfluth gleich verheerend gewirkt in Ost- wie in Nordfriesland. Es gab keine Insel, kein Küstendorf, wo nicht, Dämme durchbrechend und überfluthend, das Meer sich Wege gebahnt hätte, alles niederreißend in seinem grausamen Gange. Häuser und Aecker, Menschen- und Thierleben zu Hunderten vernichtet! Ein See, wo gestern noch die Frühlingssaat ihr schüchternes Grün zeigte; auf der leise athmenden Fluth trieben Balken und Geräthe aus menschlichen Wohnungen, Thierleichen und auch Menschen, deren Augen auf ewig geschlossen. Auf den Trümmern aber saßen im trostlosem Jammer die Ueberlebenden, nach ihren Lieben suchend.

Auch ein Schiffchen suchte seinen Weg durch die Wasserwüste; ein Mann stand darin aufrecht und hielt scharfen Ausguck nach allen Seiten.

„Wir sind falsch gekommen,“ sagte er zu dem Kameraden, welcher das Segel etwas mehr schießen ließ.

Dieser antwortete:

„Ne, dat Water steiht noch to hoch, dat mott Olderog sin.“

Was? Dieser aus fluthendem Meere ragende Trümmerhaufen soll sein Olderog, seine Hallig, sein Haus sein, wo er Mutter, Weib und – Kind zurückließ? Sein Haar beginnt sich zu sträuben, er stöhnt.

„Lat man sin, Arnt, Do büst’t nich alleen,“ tröstet der Genosse. Da aber weht ja von dem Trümmerhaufen ein Stück Tuch, es muß noch ein Lebender dort sein. Hin! Hin! Um Gottes willen rasch hin, zwischen Trümmern und Leichen hindurch. Nach zehn Minuten schreit Arnt:

„Mutter, Mutter!“

„Arnt, bist Du’s?“ tönt es zurück.

„Lebt Beta?“

„Ja!“

„Und – und – und das Kind?“

„Es sind zwei, sie leben und sind gesund!“

„Und Du, Mutter?“

„Lebe auch!“

„Wer ist der Mann bei Euch?“

„Ein Binnenländ’scher, der wollte die See in Winterpracht sehen. Das hat er gehabt. Nun lang’ ’n Tau ’rauf, daß mir Beta ’runterlassen.“ –

Das war die Nacht des 3. Februar 1825, in welcher die Hallig Olderog vom Meere verschlungen wurde.




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