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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

ihre Hand sank kraftlos herunter. Die Matrone legte liebevoll den Arm um sie und durch die aufbrechende Versammlung wurden die beiden Frauen dem Ausgang zugeschoben.

Am Weihkessel wollte sich Ginevra nach ihrer Gewohnheit die Finger netzen, aber ihre zitternde Hand griff ins Leere. Da berührten zwei Fingerspitzen die ihrigen, sie meinte, ein Funke sei auf sie übergesprungen, doch war es nur ein Tropfen Weihwasser, der an ihrem Finger zitterte. Leonardo hatte sich durch das Gedränge Bahn gebrochen und mit einer tiefen Verneigung dem jungen Weibe einen Tropfen Wasser aus dem Marmorbecken gereicht.

Ginevra wußte nicht, wie sie aus der Kirche gekommen war und den Heimweg gefunden hatte; es schien ihr, als habe ein Sturmwind sie hingetragen, während die Welt um sie her schwankte und bebte. Zu Hause fiel sie aufs neue in starre Verzückung, sie sah lange auf ihre Finger herab, deren Spitzen brannten, und fragte sich betäubt, ob denn ein Tropfen Weihwasser Feuer zu entzünden vermöge. Und von einem Taumel ergriffen, führte sie die Finger an den Mund und drückte heftige, inbrünstige Küsse darauf.

Langsam kam sie wieder zur Besinnung, Entsetzen faßte sie über ihren Zustand, sie flüchtete sich in die Kapelle, wo sie lange vor dem Bild der Jungfrau auf den Knieen lag; aber sie konnte nicht beten, denn statt sich emporzuschwingen, irrte ihr Geist hilflos auf den Wogen der aufgewirbelten Erinnerungen. Doch mit den Bildern der Vergangenheit erwachte auch die verletzte Würde wieder, sie dachte mit tiefer Empörung an die Stunde, wo sie vergeblich ihren Stolz in den Staub geworfen hatte, um sich an seine Brust zu flüchten; jedes Wort, das sie damals geschrieben, stand wieder vor ihrem Geiste und trieb ihr die Röthe der Scham auf die Wangen. Aber nicht lange hielt diese Stimmung an, bald erhob sich in ihrem eigenen Herzen ein Anwalt, der zuerst nur heimlich und schüchtern, dann immer lauter und dringlicher zu Gunsten des einst so Heißgeliebten sprach. Konnte sie denn wissen, welches Verhängniß sie in jener unseligen Nacht von einander fern gehalten hatte? Und indem sie an tausend Vermuthungen herumgrübelte, verstrickte sie sich tiefer und tiefer in die Bande der Leidenschaft.

Sie floh die Nähe der Anverwandten, denn sie glaubte, jeder müsse ihr das Geheimniß aus der Seele herauslesen. War es Frühling geworden oder wie ging es zu, daß das ganze Dasein ihr verwandelt schien, daß die Bäume, die Wolken, die Pflastersteine sie mit beseelten Augen anblickten, daß die Natur, die bisher wie stumm und todt gewesen, plötzlich aus ihrem Zauberschlaf erwachte und ihr, wo sie ging und stand, Leonardos Namen flüsterte? Ach, und wie ging es zu, daß, so oft sie von weitem eine hohe schlanke Gestalt in braunem Sammet sah, ihr Herzschlag stockte?

Gerne hätte sie gewußt, ob er wirklich, wie sie vermuthen mußte, eine Gattin aus der Fremde mitgebracht habe und wer sie sei; allein sie wagte seinen Namen nicht mehr auszusprechen. Dagegen flehte sie den Himmel an, ihn sein Glück in einer neuen Liebe finden zu lassen; und doch zweifelte sie wieder, ob ihr Gebet zum Thron des Ewigen emporsteigen werde, denn ihr Herz sprach wider Willen anders als der Mund.

Noch andere Dinge geschahen, die ihr zu denken gaben: eine ihrer Jugendgespielinnen hatte einem Popolanen vor dem Altar die Hand gereicht und kein Blitz war herabgefahren, den unnatürlichen Bund zu trennen, vielmehr hatten die Häupter der Stadt dem jungen Paare allen erdenklichen Vorschub geleistet, denn sie sahen es gern, wenn die alten Adelsfamilien sich im Volke auflösten.

Laurella, die unterdessen den Knecht Messer Baldassarres zum Mann genommen hatte und nach wie vor Ginevra bediente, sah ihre Herrin oft listig von der Seite an, und eines Tags, als Ginevra an dem hohen Fenster des Gemaches stand und ihre Vögel fütterte, fragte sie lauernd:

„Wißt Ihr schon, Madonna, daß der junge Herr Leonardo aus Frankreich zurückgekehrt, und daß er noch ledig ist und oft des Abends hier am Hause vorüberkommt?“

Ginevra zitterte von Kopf zu Fuß und verschüttete das Wasser, das sie eben in den Bauer stellen wollte, aber sie gebot der vorlauten Dienerin mit Heftigkeit, zu schweigen.

Laurella hatte in der Ehe das Glück nicht gefunden, das sie sich von dem Zusammenleben mit ihrem Beppo versprochen. Ihr Mann war ein wüster roher Gesell und viel zu sehr an Messer Ricciardos Beispiel gewöhnt, um einen guten Ehemann abzugeben; er verachtete sie um ihrer Häßlichkeit willen und war ihr von der ersten Stunde an untreu gewesen. Auf ihre eifersüchtigen Klagen lachte er sie aus und sagte: „Willst Du es besser haben als Deine Herrin?“ – oder er schlug und mißhandelte sie.

Dagegen lud er ihr alle Last und Mühsal auf, die von Rechtswegen auf seinen Theil gefallen wäre, ließ sie arbeiten und schleppen wie ein Zugpferd, daß die bisher nur an zarten Frauendienst Gewöhnte oft kein Glied mehr zu rühren vermochte. Da entfuhren ihr nun häufig Klagen und bittere Verwünschungen, und eines Tages, als Beppo sie so geschlagen hatte, daß sie das Bett hüten mußte, sagte sie zu Ginevra, die gekommen war, sie zu trösten:

„Wenn ich nur reden wollte, ich könnte Dinge aufdecken, die den Schurken um den Kopf brächten, und auch Euch die Freiheit wiedergäben.“

Ginevra aber, eingedenk der Lehren Alessandras, verbot ihr solche gefährliche Reden und ermahnte sie aufs strengste, nie ein Wort gegen ihren Gatten zu sprechen.

Mit dem Nahen des Frühlings rückte ein längst gefürchtetes entsetzliches Schreckniß unaufhaltsam auf die schöne Stadt heran.

Die Pest, die schon seit mehreren Jahren im Morgenland wüthete, war durch Handelsschiffe nach Italien verschleppt worden und man hatte schon im Winter gesehen, daß sie auf ihrem Lauf von Süden her Florenz bedrohte. Die Signoria hatte bereits seit lange Vorsichtsmaßregeln getroffen, indem sie die schmutzigsten Viertel säubern ließ, und die Priester riefen von der Kanzel herab Ach und Wehe über die sündige, verderbte Stadt. Und eines Tages, als die herrliche Frühlingssonne über Florenz schien und in den Gärten die Mandelbäume ausschlugen und die ersten Veilchen blühten, kam Ricciardo ungewöhnlich bleich an den Familientisch und sagte mit finsterem Gesicht:

„Sie ist da!“

Messer Baldassarre ward von einem solchen Zittern ergriffen, daß er sich gleich zu Bett bringen ließ, und daß Frau Alessandra die ganze Nacht bei ihm wachen mußte. Des andern Tages, da sich inzwischen keine weiteren Zeichen von Erkrankung eingestellt hatten, konnte er zwar wieder aufstehen und zu Tische kommen, aber er befand sich fortwährend im Zustand der größten Aufregung und verlangte, daß man die Thore des Palastes schließen und sich mit Proviant auf viele Monate gegen die Pest wie gegen ein Belagerungsheer verschanzen solle.

Da dieser Vorschlag aber nicht durchzuführen war, wurde nach wenigen Tagen der Verkehr mit der Außenwelt wieder hergestellt zur großen Erleichterung Messer Ricciardos, der zu dieser Klausur sehr sauer gesehen hatte.

Aber von jedem Ausgang brachte er eine Schreckensbotschaft nach Hause; die Zahl der Kranken wuchs von Tag zu Tag, obgleich man das Möglichste that, um das Uebel zu verheimlichen, und die Todten nur in der Nacht beerdigen ließ. Bangigkeit lag auf allen Gemüthern, mit Schreck sah man die nächsten Freunde den Fuß über die Schwelle setzen, denn jeder, der von außen kam, konnte ja in seinen Kleidern, seinen Haaren, im Hauch seines Mundes den Keim des Verderbens bringen. Am erschrockensten waren die Männer, die nicht wußten, wie sich des unbekannten Feindes erwehren, während die Frauen, zu Geduld und Unterwerfung erzogen, dem Uebel mit größerer Fassung entgegensahen und häufig ihren verzagten Gatten Muth und Trost einsprachen.

Mit Frau Alessandra war eine plötzliche Veränderung vorgegangen; sie trug den Kopf höher auf dem nicht mehr wie sonst gebeugten Nacken, ihre Augen glänzten in jugendlichem Feuer und sie pflegte ganz gegen ihre Gewohnheit viele Stunden des Tages außer dem Hause zu verweilen, ohne daß sie Messer Baldassarre von ihrem langen Ausbleiben Rechenschaft gab. Kam sie dann heim, so verschloß sie sich eilig in ihr Zimmer, das niemand mehr betreten durfte und aus dem sich ein Duft von Weihrauch über das ganze Haus verbreitete. Herr Baldassarre glaubte, daß sie ihre Zeit in der Messe zubringe, und obschon er sonst nicht zu den Glaubensstarken gehörte, war er doch in Tagen der Noth froh, an seiner frommen Gemahlin eine Schutzwehr gegen alles Böse zu besitzen.

Nur Ginevra blieb theilnahmslos gegen den Jammer, der sie auf Schritt und Tritt umgab; die schreckliche Gefahr, in der sie alle schwebten, hatte in ihrem Gemüth den glühenden Wunsch entzündet, falls sie sterben sollte, den Geliebten vorher noch einmal wieder zu sehen, und oft befiel sie eine wahnsinnige Furcht, daß das Schicksal ihn oder sie ereilen könnte, ehe ihnen diese letzte

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