Seite:Die Gartenlaube (1889) 055.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Die Tochter vom Alten, der einmal alleiniger Besitzer der jetzt B.schen Aktienbrauerei war. Sie ist gut erzogen, leidlich hübsch und hat ordentliches Moos. Aber –“

„Was denn, Rudi?“

„Ich kann doch einen Menschen nicht anpumpen, dem mein Fräulein Schwester einen Korb gegeben?“

„Allerdings nicht. Wenn aber die Sachen mit Deiner Heirath so stehen, dann könntest Du wohl auch darauf hin –?“

„Jawohl! Der Alte hat Horcher bei allen Halsabschneidern; man drängelt sich nicht schlecht um die Fräulein Tochter. Einer in arrangirten Verhältnissen muß es sein – sonst – Lore ist nicht recht gescheit!“ setzte er ärgerlich hinzu.

„Also ist es wahr?“

„Na, und ob! Verliebt wie ein Stint ist er, der Tolpatsch! Ich habe ihm hundertmal vorgepredigt, daß er vorsichtig zu Werke gehen soll, aber er hat’s natürlich gründlich verkehrt angefangen.“

Die alte Dame schwieg und faltete die Hände im Schoß. „Ist er denn wohl ein anständiger Mensch, Rudi?“ fragte sie zaghaft nach einer Weile.

„Was ich von ihm gesehen habe – ja! Und die Kameraden in Xleben sagen es auch.“

Wieder eine Pause.

„Rede Lore nicht zu,“ flüsterte sie endlich, „um Gotteswillen, rede nicht zu! Er ist so schwer, der Schritt, für eine Natur wie Lores, wenn die Liebe fehlt; Du kannst es gar nicht verstehen, Rudi.“

„Gott soll mich bewahren, ich sage kein Wort. Wenn’s ihr Spaß macht, zu versauern – meinetwegen!“

„Wenn ich Dir nur helfen könnte, Rudi!“

„Na, ich sag’s ja schon. Wenn alle Stränge reißen, ziehe ich mitsammt Benberg den bunten Rock aus und gehe nach Amerika. Basta!“

Jetzt legte sich die alte Frau schluchzend in den Stuhl zurück. „Daß Du uns das anthun willst! Ich überlebe es nicht,“ klagte sie.

Er machte eine ungeduldige Bewegung, aber er sah ganz blaß aus; der Gedanke war ihm ungemüthlicher, als er sich selbst eingestehen wollte.

„Geh nur, Mama,“ bat er, „ich möchte mich nun auch erheben, es ist spät.“

Sie ging auch wirklich, und weil sie ungesehen weinen wollte, stahl sie sich in eine Kammer, in der allerlei altes Gerümpel lag und stand. Da war auch noch der kleine Stuhl, auf dem die Kinder gesessen, eines nach dem andern. Sie starrte auf das abgenutzte Möbel, und es war ihr plötzlich, als ob der braune Krauskopf ihres kleinen Rudi daraus auftauchte. Er war ein süßes Kind gewesen, ihre ganze Seligkeit, und er sollte nun, mit Schimpf und Schande beladen, von ihr gehen – auf Nimmerwiedersehen! Denn ehe er einmal wiederkehrte, hatte sie sich längst zu Tode gegrämt.

Sie wollte ihm zürnen und konnte es nicht. Sein leichtes Blut – es war ein Erbtheil ihrer Familie; zwei Brüder von ihr waren durch den nämlichen Leichtsinn untergegangen. Sie hörte auf zu schluchzen und blickte mit weit geöffneten Augen zu dem kleinen Stuhl hinüber; – ja freilich, der Jüngste, der hatte sich erschossen. Sie stöhnte schwer auf: „Gott erbarme sich!“

Eine völlige Fassungslosigkeit überkam sie. Sie sprang empor und band sich mit zitternden Händen die Schürze fester; es geschah rein mechanisch. Wenn sie so etwas an ihrem Kinde erleben müßte! Die Kraft, das zu tragen, hatte sie nicht mehr, nein, die hatte sie nicht mehr! Und der kranke Mann – die armen Mädchen – „Gott im Hintmel, wenn Lore vernünftig wäre!“

Sie band wieder die Schleife der Schürze auf und ward roth. „Vernünftig? Wer ist denn hier vernünftig?“ – „Wenn Lore sich opfern wollte!“ sagte eine ehrliche Stimme in ihr. „Nein, nicht zureden! Ich will kein Wort sagen; das arme Ding – Gott wird ja einen Ausweg zeigen, Gott muß sich erbarmen!“

Drunten rasselte jetzt die Schelle der Hausthür und die Stimme des Briefträgers scholl bis zu ihr herauf. Die schwache Frau flog aus der Kammer und die Treppe hinunter, mit fast jugendlicher Leichtigkeit. Ihre zitternde Hand nahm einen Brief in Empfang, sie barg ihn hastig, ohne ihn näher anzusehen, in der Tasche und kam dann mit der „Kreuzzeitung“ die Treppe wieder herauf, um sie in das Zimmer ihres Mannes zu tragen.

„Nichts weiter?“ fragte brummig der alte Herr und griff nach dem Blatt.

„Nichts, Tollen!“ Sie antwortete noch athemlos und machte sich etwas zu schaffen mit dem Kaffeegeschirr, das vor dem Gatten stand, der im Lehnstuhl am Fenster saß. Sie ward nicht einmal roth bei der Lüge, sie war es so gewöhnt, zu verbergen, zu verheimlichen, Nothlügen vorzubringen. Sie hatte eine solche Fertigkeit darin erlangt während der letzten Jahre ihrer Ehe, daß sie mitunter vor sich selbst erschrak, aber es blieb ihr ja kein anderes Mittel, um den Frieden des Hauses zu erhalten. Der Major ward zornig bei jeder Rechnung, die eintraf, er schimpfte, als ob seine Frau die Kohlen nur verbrenne, um ihn zu ärgern, die einfachen Kleiderstoffe nur anschaffe aus reinem Uebermuth, und sie ließ ihm schon seit langer Zeit nichts derartiges vor die Augen kommen. Er war schrecklich, wenn er tobte. Der alte Herr mußte wissen, daß Schulden vorhanden seien, aber er fragte nie danach; er trennte sich so schwer von den paar Goldstücken, die er für unvorhergesehene Fälle in seiner Kassette hütete; die Trennung ging niemals ohne Sturm vor sich, und so war es ihm recht, wenn die Frauensleute nicht „um jeden Quark“ zu ihm kamen, er erfuhr es noch immer frühzeitig genug, daß er Geld hergeben sollte. Und manchmal fehlte es ihm ja ganz! So geschah es, daß die Kaufleute oft Monate lang warten mußten, ehe sie befriedigt wurden, und daß die Tollens nicht gerade hoch in der Achtung der Westenberger Bürger standen.

Die Majorin ging mit dem Kaffeegeschirr hinaus, stellte es auf ein Tischchen im Flur und stieg die schmale Holztreppe hinauf zu Lores Mansardenstübchen.

Das junge Mädchen stand am Fenster; sie gewahrte das Eintreten der Mutter nicht, und diese bemerkte nicht, wie ein heimlicher Gruß und ein Winken hinunterflog zu dem Hof des Gymnasiums.

„Lore,“ begann die alte Dame, „vom Onkel, ich glaube vom Onkel,“ und sie holte den Brief aus der Tasche, „lies Du doch, ich kann nicht, mir flimmert es so vor den Augen.“

Lore nahm ruhig den Brief aus der Hand der Mutter, schnitt das Couvert auf und las. „Es ist nichts, Mama,“ sagte sie dann, „er will durchaus nicht helfen; Onkel schreibt: ‚Mag er denn die Folgen des Leichtsinns tragen und jenseit der großen Pfütze arbeiten lernen. Die Arbeit, das eiserne Muß allein ist im Stande, derartige leichtsinnige Naturen auf den Weg der Pflicht und Ordnung zurückzuführen.‘“

Die Majorin drehte wieder nervös die Bänder ihrer Schürze um die Finger und sah angstvoll an Lore vorüber. „Nun weiß ich nichts mehr!“ murmelte sie.

„Vielleicht gelingt es Benberg dennoch, das Geld anzuschaffen, Mama?“

Aber die alte Dame hatte keine Antwort. Sie stand auf und ging mit raschen Schritten aus der Thür. Traurig blickte Lore ihr nach.




Die verwitwete Frau Pastor Schönberg saß in ihrer Stube am Fenster und strickte an einem grauen wollenen Strumpf für ihren Sohn. Die alte Frau hatte auf den ersten Blick ein merkwürdig verdrießliches Gesicht, so, als sei ihr eitel Kummer und Trübsal im Leben zu theil geworden. Wenn man ihr aber in die vergißmeinnichtblauen Augen sah, die merkwürdig jung unter der tadellos frischen Tüllhaube hervorschauten, so wußte man gleich: da ist Humor, hier hat stets die gute Laune obgesiegt, waren die Zeiten auch noch so trübe. Und dann dachte man sich wohl dies alte Mütterchen als junges Mädchen und sagte sich: „das mag ein lustiges Ding gewesen sein!“ – Es war zu drollig, wenn die Frau Pastorin ihren Bekannten versicherte, ihr Sohn mache ihr zuviel Sorgen, er wolle allewig zu hoch hinaus, er poche immer auf die paar tausend Thaler, die er nach ihrem Tode erben werde. Es sei ein Jammer, wenn die Kinder wüßten, daß es bei den alten Eltern noch etwas zu holen gäbe. Und dabei lachten dann die Augen, denn sie glaubte selber nicht, was sie sprach.

Das Dienstmädchen war hereingekommen und hatte um den Speiseschrankschlüssel gebeten; es sei Zeit, den Thee für den Herrn Doktor aufzugießen.

„Dat möt ja Thee sin, anners geit dat nich mehr,“ bemerkte sie und hakte das Schlüsselbund aus dem Gürtel.

„Der Herr Doktor muß gleich kommen, es ist ein Viertel fünf vorbei,“ sagte das Mädchen im Hinausgehen und blickte auf die Uhr.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_055.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)