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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


matten, schlaflosen, fiebernden Augen, und sie hörte die Worte: „Mein Kopf, Lore, mein Kopf! Wenn ich nur nicht denken müßte!“

Arme Mutter! Sie ballte die kleine Hand zur Faust, als sie des Bruders Stimme eben vernahm hinter der Portiere, laut, lustig und lachend.

„Aber, mein liebes Fräulein von Tollen,“ gellte die Stimme der Frau Elfriede Becker, und sie rauschte mit ausgestreckten Händen auf das junge Mädchen zu, das mit traurigen Augen an ihr vorübersah, „hier verstecken Sie sich? Warum ziehen Sie sich denn so zurück? Wenn Sie nicht tanzen, so kommen Sie wenigstens zu uns in den Salon und – bitte, mein Herzchen, geben Sie mir Ihren Arm – so! Ich kann Ihnen nicht beschreiben – unter uns natürlich – wie matt ich mich heute fühle, wie nervös!“

Lore sah auf die kleine kugelrunde Dame hinunter, die wie das Leben selbst erschien. Sie trat, die unaufhörlich Sprechende am Arm, in den Salon, wo ein Kreis älterer Damen auf Sofas und Fauteuils Platz genommen hatte.

„Nicht wahr, meine liebste Frau Landräthin,“ kreischte die Wirthin und legte sich fester auf Lores Arm, „es ist reizend, solch jugendliche Stütze zu haben? Mir fehlt wirklich nichts zu meinem Behagen als ein liebes Töchterchen, man wird doch alt. Ich danke Ihnen, mein Häschen, – setzen Sie sich neben mich, bitte hier!“ Und als Lore zögernd Platz genommen, winkte sie dem jungen Mädchen vertraulich, indem sie ihren Mund an das kleine Ohr brachte. „Ach, liebes Kind, meine Müdigkeit!“ flüsterte sie so laut, daß es alle hören konnten, „würden Sie einen kleinen wirthschaftlichen Gang für mich thun? Ich weiß nicht, wo die Diener mit den Erfrischungen bleiben, vielleicht sind sie beim Arrangement der Tafel beschäftigt – würden Sie vielleicht mir die Säumigen schicken?“

Lores Kopf wich zurück, ihre Miene ward eiskalt. Aber ehe sie noch antworten konnte, hatte Frau Becker schon wieder mit ihrer hohen Stimme das Glück gepriesen, ein so reizendes hilfreiches Töchterchen für diesen Abend gefunden zu haben.

Langsam erhob sich Lore und schritt nach dem Ballsaal, sie dachte nicht daran, den Auftrag auszuführen, die Diener drängten sich schon durch das Gewirr der Jugend mit Präsentirtellern voll Bowlengläsern. Sie blieb am Eingang des Saales stehen und schaute in den Wirbel einer Polka; ihr kam alles so schal und albern vor heute abend. Ihr Bruder machte eben einer niedlichen Blondine so sorglos den Hof, als trübe kein Wölkchen seinen Himmel, als er an ihr vorüberflog mit seiner Dame, deren Fächer er in der Hand hielt, nickte er ihr vergnügt zu.

Sie setzte sich auf das gelbe Seidenpolster einer längs der Wand befindlichen Ruhebank und blieb dort, ohne eigentlich zu hören und zu sehen, bis der Sohn des Hauses ihr seinen Arm bot, um sie in den Eßsaal zu führen. Man speiste heute in zwei Zimmern, die Jugend in dem sogenannten Gartensaal. Lore befand sich an einer Art Ehrenplatz, vor ihr prangte ein wundervoller Blumenkorb, über die ganze Tafel waren Blüthen verstreut, und es funkelte überprächtig von Krystall und Silber; sie hatte noch nie an einer so reichen Tafel gesessen.

„Amerikanische Sitte, gnädiges Fräulein,“ erklärte beflissen Adalbert Becker, dessen Antlitz feucht und roth war vom Tanz, und er deutete auf die Blumen. „In New-York wird ein kolossaler Luxus damit getrieben, jede Dame findet auf ihrem Teller ein immenses Bouquet der seltensten Blüthen und außerdem noch Blumen, wo man sie irgend anbringen kann. Wir haben da mitunter Soupers gegeben, wo ich den Blumenschmuck mit ein paar hundert Dollars bezahlte.“

Lore blieb unhöflich still während des Essens und nippte kaum an ihrem Glase, in dem der Champagner lustig Perlen aufwarf.

Das Lachen und Sprechen an der Tafel ward mit jedem Gang lebhafter und die Gänge wollten kein Ende nehmen, die Luft war so schwül und von dem Geruch der Speisen erfüllt.

Adalbert Beckers Gesicht ward nach jeder Flasche Sekt, die er in den silbernen Eiskübel vor seinem Kouvert stellen ließ, röther, die Augen immer intensiv blauer und glänzender, mit denen er Lore unausgesetzt anstarrte. Beim Nachtisch bot er ihr ein Vielliebchen an.

Sie dankte kurz.

Er sah sie vorwurfsvoll an und rückte ihr näher. Als er den Mund öffnete, um zu sprechen, wandte sie sich zu ihrem andern Nachbar und bat um ein Glas Wasser.

„Gnädiges Fräulein,“ flüsterte da eine leidenschaftliche Stimme, „warum behandeln Sie mich so schlecht? Wenn Sie wüßten – Lore – wenn Sie wüßten –“

„Fräulein von Tollen, bitte!“ erwiderte sie und setzte sich zurück auf ihren Stuhl.

„Ich flehe Sie an, gnädiges Fräulein, lassen Sie mich einen Blick in Ihr Herz thun! Sie können nicht so kalt über mich denken, wie Sie es zeigen. Sie müssen es wissen, daß, seit ich Sie gesehen –“

Der kleine Holzfächer in ihrer Hand brach hart entzwei in diesem Moment; sie machte unwillkürlich eine Bewegung, aufzustehen.

„Um Gotteswillen,“ flehte er, „bleiben Sie, ich bitte! Nach Tische noch ein einziges Wort –“

Sie legte zitternd vor Erregung den Fächer auf den Tisch, mitten durch das Wappen ging der Bruch.

Adalbert Becker winkte noch eine frische Flasche Champagner herbei; als er sein Glas eingeschenkt hatte, rief er nach dem andern Ende der Tafel. „Tollen! Tollen!“ indem er den Kelch hob; „Du weißt schon!“

Lore sah ihren Bruder mit entsetzten Augen an. Wie? „Du“ nannten sie sich?

In dem bunten Durcheinander beim Aufheben der Tafel hoffte sie entschlüpfen zu können, sie wollte fort! Das war ihr einziger Gedanke, aber als es so weit war, erwies es sich als unmöglich. Sie wurde in dem Strom mit fortgerissen, der in den kühlen Salon und den Tanzsaal führte, die Klänge eines Walzers empfingen die vom Wein erregte Gesellschaft und die Paare begannen zu tanzen, etwas weniger korrekt, aber lebhafter, feuriger.

„Rudolf, ich muß Dich sprechen!“ flüsterte Lore, die an einer schwarzen Marmorsäule stand, welche eine Terpsichore trug; hinter ihr, erhitzt und verstimmt, befand sich Adalbert Becker, der sie abermals um einen Tanz bestürmt hatte. Sie hielt ihren Bruder am Arme fest, als er an ihr vorüber wollte mit seiner Dame. „Gleich!“ erwiderte er und tauchte in dem Wirbel unter.

„Ein Wort! Ein Wort, gnädiges Fräulein!“ flüsterte es hinter ihr, „ich liebe Sie von ganzer Seele –“

Sie stand mit zusammengepreßten Lippen, bleich wie die weiße Wand des Saales, und that nicht, als habe sie es gehört.

„Sie sind ein so wunderschönes Mädchen, Lore – ich muß – ich – Sie machen mich verrückt durch Ihre Kälte!“

Sie fühlte den heißen Athem an ihrer Wange, eine warme Berührung an ihrem Ohr – sie lief plötzlich quer durch den Saal und stand vor Rudolf, der eben ausruhte vom Tanze. „Bringe mich nach Hause!“ forderte sie mit bebenden Lippen, „sofort! Ich fühle mich nicht wohl!“

Sie sah ihn so verängstigt an mit den vor zorniger Erregung flimmernden Augen, und ihr Gesicht war so bleich, daß er aufsprang, sich bei seiner Dame entschuldigte und, ihr den Arm bietend, sie nach der Garderobe führte. Tante Melitta fand sich händeringend dort ein, ihre Whistkarten in der Hand, als Lore bereits in Mantel und Kapuze stand.

„Was um Gotteswillen ist Dir denn, mein Engelchen?“

Rudolf brummte etwas von „Launen“, während er den Paletot umnahm.

„Bleib’ bei Deiner Whistpartie, Tante,“ bat Lore, „mir ist nicht wohl, ich habe Kopfschmerz. Du weißt, ich schlief wenig in der letzten Zeit.“

Sie küßte das kleine bekümmerte Gesicht unter den Pensees und huschte die Treppe hinab in den hallenartigen Flur; sie lief dann, wie gejagt, ins Freie hinaus, den Gartenweg entlang, hinter ihr war Adalberts Stimme erklungen, heiser und aufgeregt. Ihr Bruder holte sie erst an der Gartenpforte des Beckerschen Parkes ein.

„Recht angenehm, so heißgetanzt diese unerwartete Promenade machen zu müssen,“ sagte er ärgerlich. Und als sie schwieg. „Was fällt Dir ein, so davon zu laufen?“

„Ich bedaure von Herzen, daß ich Dich bemühen muß, Rudi, aber an wen soll ich mich wenden, wenn nicht an Dich?“ sprach sie mit bebender Stimme.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_042.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)