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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Vorbereitung zu gestatten, hatte er bei dem Chor des Volkes: „Heil sei dem Tag! Heil sei der Stande!“ begonnen und sonder Unterbrechung ließ er ihn das ganze große Finale, theilweise sogar mit vollem Text, hören, bis zu den letzten Takten des Jubelchors: „Wer ein solches Weib errungen!“ Als er endlich die Hände sinken ließ, sich in den Stahl zurückwarf, um den Schweiß, der seine mächtige Stirn bedeckte, abzutrocknen, da sprang Breuning von seinem Sitz empor. Sein Auge flammte, seine Brust senkte und hob sich vor heftiger Erregung, und keine andern Worte vermochte er im ersten Augenblick zu finden als: „Herrlich! herrlich! ergreifend herrlich!“ Dann umarmte und küßte er den Meister.

„Du bist also mit der Komposition zufrieden?“ sagte Beethoven, der aufgestanden war und jetzt, um sich Luft zu machen, die Stube zu durchwandern begann. „Hast mir keine Bemerkung zu machen?“

„Wunderbar! Himmlisch schön! Der Schlußgesang ist ein Jubelhymnus, wie noch nie – niemals ein gleicher auf der Bühne – ich möchte wohl sagen im ganzen Reich der Töne erklungen!“ Also antwortete Breuning noch immer in voller Begeisterung. Dann umschlang er des Meisters Schultern, drückte ihn sanft wider seine Brust und sagte nun mit leisem, innigem Ton, während seine Augen naß werden wollten: „Und ein Mann hat ihn mit seinem Herzen gesungen – der bis jetzt noch kein Weib gefunden, das er in gleichem Sinne sein eigen nennen darf. Armer Freund!“

„Laß das!“ fuhr Beethoven wild, mit dem Ton eines grollenden Löwen auf, zugleich die Arme des Freundes, der sich wohl vergessen hatte, von sich abschüttelnd. „Sage mir lieber, was Du auszusetzen hast, es wäre ja ein Wunder, wenn nichts derartiges auf Deinem Herzen lastete.“

„Nun denn, wenn Du es durchaus willst,“ entgegnete der andere, durch des Meisters rauhe Weise etwas abgekühlt, „so will ich Dir eines sagen, was mir aufgefallen ist. Ich bemerkte eine Stelle Roccos, im Beginn des Finales, der Du nach meiner Ansicht eine wirksamere Betonung hättest geben können, die dabei auch ganz bestimmt die richtigere sein würde.“

„Ah! das wäre! – Da liegen die Noten – zeige mir die falsch betonte Stelle!“

Breuning schlug die Blätter zurück, und als er endlich gefunden, was er gesucht, deutete er auf die Noten und sagte: „Hier ist’s, schau nur her! Rocco sagt zu dem Minister, als Schluß seines Berichtes über den Hergang im Kerker:

‚Nur euer Kommen rief ihn (den Mörder Pizarro) fort!‘

Die Scansion dieses Verses hast Du, wie alles was ich gehört, richtig, oder doch regelrecht behandelt, aber mir scheint, daß Du gerade an dieser Stelle von dieser Regelrechtigkeit hättest absehen müssen. Denn deutlicher und wirksamer wäre es auf alle Fälle gewesen, wenn Du das unscheinbare Wörtchen ‚Nur‘, das sich auf das Kommen des Ministers bezieht, was nach meiner Ansicht hier allein den Ausschlag giebt, mehr hervorgehoben und deklamirt hättest:

Nur euer Kommen rief ihn fort.‘“

„Hm, hm!“ brummte Beethoven gedankenvoll vor sich hin, „das wäre zu überlegen.“ Dann sprach er hastig, abgerissen und ohne aufzublicken: „Doch laß mich jetzt! – Gehe einstweilen in den Park, in einer halben Stunde bin ich bei Dir, dann wollen wir eine Promenade machen. – Ich sehne mich nach freier Luft – meine hier zu ersticken.“

Breuning, der Beethovens Eigenheiten hinlänglich kannte, entfernte sich ohne viele Worte und schritt dem Eingang des kaiserlichen Parkes zu. Der Meister war wieder allein. Eine ganze Weile blieb er brütend und unbeweglich, die Augen starr auf die Noten gerichtet, vor dem Klavier sitzen, kaum verständlich ein über das andere Mal vor sich hinmurmelnd: „Nur euer Kommen – Nur euer Kommen – rief ihn fort!“ – Endlich rief er laut: „Der Satansjunge hat wahrhaftig recht! es klingt besser, wirksamer und ist dabei auch richtiger.“ Zugleich nahm er die auf dem Klavierdeckel bei der Tinte liegende Feder, durchkreuzte mit kräftigen Strichen die Stelle und schrieb sie sofort in der neuen Lesart in kaum zu enträthselnden Noten und Worten am Rande des Blattes nieder. Dann versank er aufs neue in sein früheres Brüten.

Die halbe Stunde – wohl eine ganze! – war vergangen und Beethoven hatte Breuning und sein Versprechen, ihn im Schloßpark aufzusuchen, längst vergessen. Da klopfte es an der Thür, die sich auch sofort öffnete – denn ein „Herein!“ des unbeweglich dasitzenden Meisters wäre nicht erfolgt! – und in die Stube traten ein Herr und eine Dame in gesetztem Alter in der damaligen modischen Tracht der besseren Gesellschaftsklasse. Es war Joseph Sonnleithner und Frau Nanette Streicher, die sich schon damals in ihrer frischen, freundlichen Weise der etwas unordentlichen Junggesellenwirthschaft Beethovens thatkräftig angenommen hatte.

“Schönen guten Morgen, Herr von Beethoven!“ rief Frau Streicher schon beim Betreten der Stube mit lachendem Gesichte und fröhlichem Ton. „Muß mich doch wieder einmal nach Ihnen umsehen, und da heute ein heiliger Sonn- und Festtag ist, so darf dies wohl auch geschehen, ohne daß man befürchten müßte, den Meister in seiner Arbeit zu stören.“ Dabei war sie auf Beethoven zugetreten und hatte ihm so kräftig und anhaltend die Hand gedrückt und geschüttelt, als ob sie ihn mit Gewalt aus seinem Träumen hätte aufwecken wollen.

Sonnleithner hatte während dieser redefertigen Begrüßung nur eine ceremonielle Verbeugung anbringen können, nun aber sagte er: „Und ich komme im Auftrag meines Chefs, des kaiserlichen Hofoperndirektors Herrn Baron von Braun, mich bei Herrn von Beethoven nach dem Stande unserer Oper ‚Fidelio‘ zu erkundigen.“

„Nichts ‚Fidelio‘! ‚Leonore‘ heißt meine Oper, und so soll und wird sie heißen!“ rief Beethoven, recht unwirsch den höflichen Gruß seines Dichters erwidernd. „Und fertig ist sie auch – oder doch so gut wie fertig. Schaut nur her, Sonnleithner, hier das letzte Finale! – Ah!“ rief er plötzlich recht freudig, wie von einem ihn ganz besonders interessirenden Gedanken erfaßt. „Ihr kommt mir gerade gelegen und sollt nun auch ein Stück meines Finales und einen Theil Eurer schönen Verse hören. Merket auf – alle beide!“

Seine letzten Worte waren in ein Lachen übergegangen, das indessen bedenkliche Aehnlichkeit mit einem unwirschen Brummen zeigte. Dann begann er zu spielen.

Frau Nanette hatte sich, ohne den Shawl und den gewaltigen, mit wallenden Federn besetzten Hut abzulegen, bequem in eine Ecke des einfach ländlichen Sofas niedergelassen und Herr Sonnleithner stützte sich auf die Rücklehne des Stuhls, auf dem Beethoven saß. Dieser hatte das Finale bei dem Chor: „Heil sei dem Tag! Heil sei der Stunde!“ begannen, dann spielte er weiter bis zu der bewußten Stelle Roccos, wo er die neue Lesart:

Nur euer Kommen rief ihn fort!“

ganz besonders, sogar mit rechtem Wohlgefallen hervorhob.

In diesem Augenblick machte Sonnleithner eine unbehagliche Bewegung, wodurch der Stuhl, dessen Rücklehne seine Hand gefaßt hielt, ebenfalls ins Schwanken gerieth. Beethoven brach sein Spiel ab, wandte den Kopf nach dem Dichter um und fragte ist recht rauher Weise:

„Na, was ist’s, Herr von Sonnleithner? Gefällt Ihnen etwa meine Komposition nicht?“

„Ganz ausnehmend gefällt sie mir, hochverehrter Meister,“ entgegnete der also Angefahrene äußerst höflich. „Nur – verzeihen Sie mir, Herr von Beethoven, wenn ich es wage, mich offen auszusprechen – nur diese letzte Stelle scheint mir nicht ganz richtig aufgefaßt und wiedergegeben zu sein. Der Accent müßte doch hier unbedingt – wie es auch die Scansion des Verses verlangt – auf dem Worte ‚euer‘ liegen und nicht aus dem nebentonigen ‚nur‘. Denn des Ministers Kommen allein hat die Katastrophe herbeigeführt, und da ist es unbedingt klarer und nebenbei auch richtiger, wenn es heißt und gesungen wird:

‚Nur euer Kommen rief ihn fort!‘“

„Da haben wir’s!“ knirschte Beethoven unhörbar vor sich hin, um in Gedanken hinzuzusetzen: „Nun will der wieder recht haben – und er hat’s vielleicht auch, wie ich von allem Anfang an recht hatte.“ Da fiel sein Blick auf Frau Streicher, und plötzlich wendete er sich mit einem Anflug von Humor und der Frage an diese: „Und was sagt Frau Nanette dazu? Welches ist ihre Meinung?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 847. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_847.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2019)