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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Sie haben das alles selbst gesehen?“ fragte Helene gespannt.

„Ich war einige Jahre in Ostasien.“

„Zu Ihrem Vergnügen?“ Sie bereute sofort die indiskrete Frage. Aber sie hätte doch gar zu gern gewußt, wer er eigentlich sei. Nach einem Kaufmann sah er nicht aus.

„Unmittelbar wohl nicht,“ erwiderte er lachend. „Ein Vergnügen kann man vieles nicht nennen, was dort vom Reisen unzertrennlich ist. Und andererseits geht der ungeheure Lebensreichthum, den man in solchen Jahren erwirbt, weit über das Wort Vergnügen hinaus. – Ich war dort, um geologische Aufnahmen zu machen,“ setzte er kurz hinzu, als ihr Blick fragend auf ihn gerichtet blieb.

Also ein Gelehrter. Helene fand das ungemein interessant, sie hätte schon lange gern einen berühmten Professor kennenlernen mögen. Vielleicht war das einer? Nur sah er dazu eigentlich nicht alt und würdig genug aus. Und seine Augen ruhten mit einem so merkwürdigen Ausdruck auf ihrer kleinen Person – es waren schöne, tiefe Augen; auch die Stimme hatte einen sonoren Klang, der die musikalische Helene angenehm durchbebte.

„Wie haben die Männer es doch gut in der Welt!“ sagte das junge Mädchen, indem sie träumerisch auf die vorbeifliegende Landschaft sah. „Sie können reisen und alles Wirkliche des Lebens sich zu eigen machen, während wir ein bißchen in Kunst und dergleichen herumpfuschen – und Indien zum Beispiel nur kennen lernen, wenn wir in ‚Paradies und die Peri‘ mitsingen,“ setzte sie schon wieder lachend hinzu.

„O, schelten Sie das Frauenlos nicht,“ erwiderte er eifrig. „Niemand fühlt tiefer als ein Fachgelehrter, wie einseitig unsere Bildung ist. Glauben Sie mir, ich habe schon oft eine wahre Sehnsucht empfunden nach den Gebieten, die wir vernachlässigen müssen und die mir so recht als Domäne für begabte, feinfühlige Frauen vorkommen. Gestern noch in Ihrer herrlichen Galerie fühlte ich mich als armen Fremdling unter diesen Wundern der Kunst!“

Nun war Helene ist ihrem Fahrwasser. Kunst, Musik, Litteratur – alles was ihr junges Herz ausfüllte und begeisterte, kam jetzt eins ums andere während der nächsten Stunden an die Reihe; sie sah reizend aus in ihrer lebhaften und selbstvergessenen Sprechweise, und ihr Gegenüber gerieth immer tiefer ist die bewundernde Betrachtung ihrer großen strahlenden braunen Augen hinein. Plötzlich aber kam ihm die Erinnerung, daß es die Frau eines andern war, mit der er hier reiste, er schwieg eine Zeitlang, fuhr nachdenklich mit der Hand über die Stirn und sagte dann:

„Gnädige Frau, nach einer so interessanten Unterhaltung, wie ich das Glück hatte, sie hier bei Ihnen zu finden, ist der Wunsch begreiflich, nicht als absolut Fremder scheiden zu wollen. Gestatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen. Professor Roditz aus Halle.“

„Professor Roditz!“ rief Helene jubelnd aus. In ihrer Herzensfreude ergriff sie ohne weitere Ueberlegung seine Hand mit lebhaftem Druck. „O, wie mich das beglückt! Wie oft wünschte ich sehnlich, Sie einmal zu sehen – las ich doch immer mit so großer Begeisterung Ihre wundervollen Reisebriefe!“

Der Professor verneigte sich lächelnd. „Damit faßt man einen Autor an der schwachen Seite. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl, in der Ferne verstandest und günstig beurtheilt zu werden. Sie lasen meine Berichte wohl gemeinsam mit Ihrem Herrn Gemahl?“

Helene überhörte das leise Weh in dem Ton der Frage, weil diese selbst wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf sie hereinfiel. Das hatte sie ja in der Lebhaftigkeit der Unterhaltung ganz vergessen. Die dumme unnöthige Lüge! Und was setzt sagen, wenn er auch ihren Namen wissen wollte? Etwa bekennen: „Ich fürchtete mich, allein mit Ihnen zu fahren, deshalb gab meine Freundin mich für eine verheiratete Frau aus!“ Oder: „Entschuldigen Sie, wir haben uns nur einen kleinen Scherz erlaubt.“ Nein – nein, das war unmöglich, wozu auch? sie würde ihn ja wohl niemals wiedersehen. Aber antworten, wenn er fragte, mußte sie ohne Zögern. Sie mußte sich einen komischen, unglaublich klingenden Namen ausdenken, den es in Wirklichkeit sicher nicht gab. Eigentlich wurde das Abenteuer ja immer lustiger. Wären nur nicht jene Augen und das eigenthümliche Gefühl in ihrer Brust gewesen! Viel, viel lieber hätte sie ihrem Reisegefährten die Hand gereicht und ihm gesagt: „Ich heiße Helene Elden und hoffe auf ein Wiedersehen.“ Wie kindisch, wie albern müßte dieses Bekenntniß sie vor dem ernsten Manne erscheinen lassen! – –

Alle diese Gedanken und Erwägungen kreuzten sich mit Blitzesschnelle ist Helenens Kopfe; allein während der Pause, die seiner Vorstellung folgte, dachte auch der Professor nach und beobachtete.

Das kurze Ja! gefolgt von einem plötzlichen verlegenen Nachsinnen der noch eben so heiteren Frau Majorin, fiel ihm auf. Was mochte wohl der Grund davon sein und weshalb fehlte an der Hand der verheirateten Frau der glatte, bedeutungsvolle Reif?

Helene hatte nämlich im Eifer der Unterhaltung die Handschuhe abgestreift, und mit Entzücken betrachtete der Professor ihre schlanken weißen Hände, die ohne jeden Schmuck nachlässig in ihrem Schoß ruhten.

Weshalb fehlte der Ring? Weshalb nannte sie ihren Namen nicht? Er war sich bewußt, eigentlich nicht danach forschen zu dürfen, da sie offenbar absichtlich ihm denselben verschweigen wollte, und im Grunde genommen hatte er nichts davon, wenn er wußte, wie diejenige hieß, die er nie wiedersehen würde. Woher kam nur das lebhafte Bedauern, welches ihn bei dieser Vorstellung durchzuckte? Es erschien ihm unmöglich, sich für immer von ihr zu trennen; es war ihm, als müsse er später einmal diese wundervollen braunen Augen, diese zierliche, ebenmäßige Gestalt wiedersehen, als müsse er einmal, einmal nur diese kleine Hand küssen, die eben in dem schwarzen, krausen Haar lag und sich blendend davon abhob. Allein er suchte die Empfindung rasch abzuschütteln, sie lief seinem strengen Ehrgefühl entgegen. Freilich konnte er nicht umhin, ganz im allgemeinen ein paar Augenblicke darüber nachzudenken, welche Seligkeit es doch sein müsse, ein solches Weib sein zu nennen – die Gefährtin des Geistes zugleich mit der Geliebten des Herzens. Wie anders würden die vier Wände seiner Gelehrtenstube sich ausnehmen, wenn eine solche kleine Fee darin waltete! Es wurde ihm schwül, er erhob sich und sah aus dem Fenster, dann wendete er sich wieder Helene zu, die, in ihre eigenen Gedanken vertieft und bang die möglichen Fragen des Herrn Professors fürchtend, die Unterbrechung des Gesprächs nicht auffällig gefunden hatte.

In ihrem Gesicht zeigten sich widerstreitende Empfindungen; offenbar war es ihr gelungen, einen Namen herauszufinden, dessen Absonderlichkeit ihre Mundwinkel voll Schelmerei zucken machte; es sprach sich darin sowie in dem Blitzen ihrer Augen noch immer etwas von stiller Befriedigung an ihrem Abenteuer aus; allein die Heiterkeit gelangte dieses Mal nicht zum Durchbruch, denn als sie endlich aufschaute und die Blicke des Professors fest auf sich gerichtet sah, durchschauerte sie abermals das seltsame Gefühl und eine glühende Röthe bedeckte ihre Wangen.

Jedoch Roditz nahm entschlossen das Gespräch wieder auf.

„Das Endziel Ihrer Reise ist Leipzig, gnädige Frau; ich selbst werde mich dieses Mal dort nicht aufhalten, sondern gleich weiter fahren nach Halle und,“ setzte er aufseufzend hinzu, „später wohl wieder eine weite Reise antreten. Wenn ich dann auf dem Schiffsverdeck oder in den kleinasiatischen Bergschluchten an die deutsche Heimath denke, dann werde ich mich auch Ihrer erinnern sowie dieser gemeinsamen, unvergeßlichen Fahrt, und so möchte ich denn wissen, an wen ich denken darf; wollen Sie es nicht für unbescheiden halten, wenn ich bitte, mir auch Ihren Namen zu nennen?“

„Helene,“ flüsterte das junge Mädchen so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen.

„Helene!“ wiederholte er mit dem tiefen Tonfall seiner Stimme. „Der Name ist mir teuer. Es ist der meiner Mutter.“

Sie sah ihn teilnahmsvoll an:

„Und Ihre Frau Mutter lebt mit Ihnen zusammen?“

„Nein, sie ist todt, ich stehe allein auf der Welt und wahrscheinlich für immer,“ erwiderte der Professor ernst. „Man hat ja ist der Jugend auch seine Träume gehabt von einer späteren lichten Zukunft, von einem Heim. voll Liebe, Treue und Sonnenschein, allein solche Träume erfüllen sich nicht immer – oder können sich auch nicht erfüllen,“ setzte er mit einer seltsamen Betonung hinzu.

Helene stockte in der Erwiderung, denn sie begann den Sinn seiner Rede zu ahnen. Ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen, hätte sie doch nie dieses thörichte Spiel getrieben, wäre Emma nie auf diese Idee gekommen!

Der Professor bemerkte ihre Verwirrung, und von seinem vorigen Verlangen beherrscht, benutzte er die abermalige Pause zu einer weiteren Frage.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_843.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)