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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Gronau zuckte mit bedenklicher Miene die Achseln.

„Einer der Leute ist von dem Wildbache fortgerissen und halb zerschmettert wieder aufgefischt worden; der Doktor meint, er würde schwerlich davonkommen; ein zweiter ist von einem niedergehenden Erdsturze am Kopfe getroffen, bei dem geht es gleichfalls auf Tod und Leben; die Verletzungen der anderen sind leichter Art.“

„Wenn Doktor Reinsfeld noch Hilfe brauchen sollte, ich bin zu jeder Dienstleistung bereit!“ erklärte das junge Mädchen und machte Miene, ihr Pferd nach dem bezeichneten Hause zu wenden.

„Danke, gnädiges Fräulein, wir schaffen es schon allein,“ versetzte Veit, während Waltenberg sich umwandte und seine Braut erstaunt ansah.

„Du, Erna? Dazu sind doch wohl andere Hände da! Du hörst es ja, daß Gronau den Doktor unterstützt. Warum also dieser überflüssige Heroismus?“

„Weil ich es nicht ertrage, allein müßig und theilnahmslos zu bleiben, wo alles arbeitet und ringt und die letzte Kraft einsetzt.“

Es lag ein harter Vorwurf in der Antwort, aber Ernst schien ihn nicht verstehen zu wollen.

„Nun, theilnahmslos bist Du wenigstens nicht, Du fieberst ja förmlich vor Erregung,“ bemerkte er kalt. „Aber es ist wahr, die Leute leisten in der That das Aeußerste, trotzdem sie bei der Arbeit fortwährend in Gefahr sind.“

„Weil der Chefingenieur ihnen immer voran ist,“ ergänzte Veit. „Wenn er nicht überall der erste wäre und ihnen zeigte, wie man die Gefahr verachtet, sie würden sich wohl bedenken und zurückbleiben; aber solch ein Führer reißt auch die Zaghaften fort. Da steht er wieder mitten auf dem Damm, den das wüthende Wasser jeden Augenblick fortreißen kann, und kommandirt, als könne er der ganzen Bergwelt befehlen! Seit drei Tagen schlägt er sich nun so mit dieser verwünschten Alpenfee herum, die diesmal einen förmliches Wuthanfall zu haben scheint, und ich glaube wahrhaftig, er bringt es fertig, sie zu zwingen. – Doch ich muß jetzt zurück zu dem Doktor! Gott befohlen!“

Er ging, und der Präsident, der jetzt erst zu seinen Begleitern zurückkehrte, sah ihn noch in der Thür des Wärterhäuschens verschwinden. Er zuckte unwillkürlich zusammen; das Erscheinen dieses Mannes war ihm eine Unheilsbedeutung mehr an diesem unheilvollen Tage; es erinnerte ihn daran, daß noch etwas anderes ihn bedrohte, was die jetzige Katastrophe nur zurückgedrängt hatte, und diese Katastrophe war schon furchtbar genug.

Die kurze Unterredung mit Wolfgang hatte Nordheim den letzten Hoffnungsschimmer genommen. Wenn auch die obere Strecke endlich preisgegeben werden mußte, was blieb dann noch von all den Bauten, die Millionen verschlungen hatten und die in derselben Weise wiederherzustellen wenigstens für ihn ein Ding der Unmöglichkeit war? Er war von Anfang an der Haupteigenthümer der Bahn gewesen und hatte in der letzten Zeit, mit Rücksicht auf den zu erhoffenden Gewinn bei der Abtretung, noch mehr in seine Hände gebracht, jetzt traf ihn der ganze ungeheure Verlust fast allein. Er wußte, daß sein Vermögen, das ja in vielfachen anderweitigen Unternehmungen steckte, einen solchen Schlag nicht aushalten konnte, und wenn Gronau setzt seine Drohung wahr machte und mit einer öffentlichen Anklage auftrat, war alles verloren. Der Millionär in seiner gesicherten Stellung hätte ihr vielleicht Trotz bieten können, dem Wankenden, Stürzenden mußte sie verderblich werden, Nordheim kannte die Welt, mit der er so oft kaltblütig gerechnet hatte.

Jetzt freilich hielten diese Kaltblütigkeit und Energie nicht mehr Stand. Der Mann, den das Glück so verwöhnt hatte während seiner ganzen Laufbahn, der immer nur erworben und gewonnen hatte, konnte es jetzt nicht fassen, daß sein Glück ihn so völlig verließ. Er war von jeher nur ein kühner, kluger Geschäftsmann gewesen, kein Charakter; vor diesem Schicksalsschlage sank er kläglich zusammen. In dumpfem, verzweiflungsvollem Brüten starrte er in den Regen und auf die Arbeitenden, deren Leitung der Chefingenieur wieder übernommen hatte.

Wolfgang war in der That überall, bald stand er hoch oben auf den Dämmen an der am meisten preisgegebenen Stelle, bald war er mitten auf der Brücke und stemmte sich gegen den Sturm, der an dem eisengefügten Gitterwerk rüttelte, als wolle er es zerbrechen, bald eilte er wieder nach dem Stationshause und gab dort seine Befehle. Sein ganzer Anzug triefte, das Wasser rann aus seinen Haaren, von seinem Mantel; er schien es nicht zu fühlen, schien weder Ruhe noch Erholung zu brauchen, und doch hielt ihn nur die furchtbarste Anspannung aller Seelen- und Körperkräfte aufrecht in diesem Kampfe, der nun dreimal vierundzwanzig Stunden dauerte. Es waren Stunden, in denen Wolfgang Elmhorst selbst seine ärgsten Gegner zur Anerkennung und Bewunderung nötigte.

Auch seinen Todfeind zwang er dazu! Aber dessen Haß und Eifersucht loderten nur noch glühender auf unter diesem Zwange. Waltenberg war ja auch vertraut mit der Gefahr; er hatte sie oft genug herausgefordert und mit ihr gespielt, tollkühn und zwecklos, wie man einen Sport treibt, aber es lag doch noch etwas anderes in dieser unbezwinglichen Energie, mit der Elmhorst seine Pflicht that. Er wußte, daß er auf einem verlorenen Posten stand, die eine Hälfte seines Werkes hatte er schon preisgeben müssen, die andere war auch nicht mehr zu retten, und doch vertheidigte er sie noch und schien entschlossen, eher zu fallen als zu weichen.

Und während dessen hielt Ernst Waltenberg drüben auf seinem Pferde als Zuschauer bei dem „hochinteressanten Anblick“; aber er fühlte es jetzt doch, zu welcher Rolle er sich selber verurtheilt hatte. Es war nicht absichtslos gewesen, daß er Erna veranlaßte, mit ihm nach der Bahn hinunterzureiten; dieselbe berechnende Grausamkeit, mit der er sie bisher durch sein Schweigen gefoltert hatte, diktirte auch diesen Vorschlag. Er wußte, sie würde ihn nicht zurückweisen, weil er ihr die Möglichkeit gab, Wolfgang noch einmal zu sehen und sie sollte ihn sehen, mitten in der Gefahr, der er sich so rücksichtslos preisgab, sollte zittern, sich zu Tode ängstigen und doch mit keiner Miene diese Angst verrathen dürfen. Elmhorst hatte recht: selbst die Liebe dieses Mannes war Egoismus, er fragte nicht danach, ob er ein geliebtes Wesen marterte und quälte, wenn er nur seine wilde Rachsucht befriedigte. Erna sollte laden, wie er litt, er war erbarmungslos gegen sie wie gegen sich selber.

Aber er unterschätzte doch die kühne, furchtlose Natur seiner Braut, wenn er glaubte, sie könne nur zittern in dieser Gefahr. Wohl hingen ihre Augen unausgesetzt an Wolfgang in angstvoller, athemloser Spannung, aber diese Augen flammten auch in leidenschaftlicher Bewunderung, in glühender, stolzer Genugthuung, als sie sah, wie er kämpfte, wie er der Alpenfee in das furchtbare Antlitz schaute und mit ihr rang auf Tod und Leben. In diesem Kämpfen und Ringen wuchs er ihr zum Helden empor, dem ihre ganze Seele zuflog. All die Schatten, die ihr so lange sein Bild verdunkelt hatten, zerrannen in diesem Lichte, er stand vor ihr, wie er damals vor Nordheim gestanden hatte, frei von all den Schlacken, mit dem Siege seiner besseren, seiner wahren Natur.

Ernst mußte es sehen, wie der Pfeil, den er so rachsüchtig abgesandt hatte, auf ihn selbst zurückprallte. Er hatte Erna die Gefahr des Geliebten zeigen wollen, und nun zeigte er ihr nur sein Heldenthum. Wohl hielt er wie ein Wächter an ihrer Seite, entschlossen, jede Annäherung zu hindern, aber er konnte die wortlose Sprache nicht hindern, in der die beiden miteinander redeten, die Blicke, die sich suchten und fanden durch Trennung und Entfernung, durch Sturm und Vernichtungsgraus, und in dieser Sprache sagten sie sich alles. Wolfgang fühlte es, daß in dieser Stunde die Schranke niedersank, die seine Werbung um Alice zwischen ihnen aufgerichtet hatte, und mitten in der düsteren Hoffnungslosigkeit, mit der er seine Pflicht that, leuchtete es auf wie an heller, verklärender Sonnenstrahl, freilich wie ein letzter Strahl vor dem Untergange der Sonne.

Es war ist der That, als ob von der Gegenwart, von dem Auge dieses einzigen Mannes das ganze Rettungswerk abhinge. Wo er stand, wo er selbst befahl und anfeuerte, rang man erfolgreich mit den Elementen, denn da wich keiner zurück, da ging jeder in die augenscheinlichste Gefahr. Die Leute holten sich Muth und Zuversicht aus dem unbewegten Antlitz, aus der unerschütterlichen Ruhe ihres Führers; sie meinten wie Gronau, er müsse das Unheil zwingen.

Und endlich schienen die furchtbaren Anstrengungen auch von Erfolg gekrönt zu werden. Es war gelungen, den gefährlichsten der Wildbäche, der unaufhörlich gegen die Bahndämme anstürmte, unschädlich zu machen. Elmhorst hatte einen tiefen Felseinschnitt benutzt, um der verderblichen Fluth eine andere Bahn zu schaffen, und sie hatte wirklich diesen Lauf genommen. All die Wasser- und Geröllmassen stürzten nun der Wolkensteiner Schlucht zu, wo sie tobend, aber unschädlich in die Tiefe niedergingen. Die nächste

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