Seite:Die Gartenlaube (1888) 803.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Alice hatte sich für unwohl erklärt und verließ seit mehreren Tagen ihre Zimmer nicht. Es war ein Vorwand, um dem Zusammensein mit dem Vater zu entgehen, den sie nach jener Entdeckung scheute und fürchtete; aber der Präsident hatte jetzt andere Sorgen im Kopfe. Er hätte vielleicht die Scheu seines Kindes gar nicht bemerkt, so wenig wie er das seltsam gespannte Verhältniß zwischen Erna und Waltenberg bemerkte.

Sein altes Glück, das ihm sein Lebelang treu geblieben war, schien ihm jetzt auf einmal den Rücken zu kehren, es war, als ob eine feindselige Macht all seine Entwürfe durchkreuze, seine Pläne vernichte und alles, was er unternahm, in das Gegentheil verkehre.

Der mit so kühner, sorgfältiger Berechnung entworfene Plan, dessen Gelingen ihm einen Gewinn von Millionen verhieß, war gescheitert, und gerade an der Stelle gescheitert, wo er es am wenigsten erwartete. Der Mann, den er unlösbar an sich und seine Interessen gekettet zu haben glaubte, sagte sich im entscheidenden Augenblicke los von ihm und machte damit die Ausführung unmöglich. Nordheim wußte sehr gut, daß, wenn der Chefingenieur, sein künftiger Schwiegersohn, jener Abschätzung die Bestätigung versagte, sie überhaupt gar nicht vorgelegt werden durfte. Die Sache fiel unbedingt mit der Weigerung Elmhorsts, der dem nochmaligen Versuche, ihn umzustimmen, ein eisiges Nein entgegengesetzt hatte. Es war eine kurze, herbe Unterredung gewesen, sie drückte das Siegel auf die schon beschlossene Trennung.

Darauf war Wolfgang zu seiner Braut gegangen und über eine Stunde bei ihr geblieben. Den Inhalt des Gespräches erfuhr niemand, auch der Vater nicht; das junge Mädchen verweigerte mit ungewohnter Entschiedenheit jede Auskunft darüber, aber die Trennung war hier wenigstens keine feindselige gewesen. Denn als Elmhorst das Haus verließ, um es nicht wieder zu betreten, winkte ihm Alice vom Fenster aus einen Gruß nach, so warm und innig, wie sie es nie während der ganzen Verlobung gethan hatte, und er grüßte ebenso zurück.

Nordheim war nicht der Mann, der das Scheitern eines jahrelang gehegten und vorbereiteten Planes gleichgültig ertrug, und zu dem Groll darüber gesellte sich noch die Sorge über die Drohung Gronaus, die er im Anfange unterschätzt hatte. Jetzt bereute er es, den Jugendgenossen, dessen rücksichtslose Energie er kannte, nicht wenigstens beschwichtigt und hingehalten zu haben. Wenn auch die direkten Beweise fehlten, es ließ sich aus so manchem eine Waffe schmieden, die gefährlich, so verderblich werden konnte, und Veit hatte das sicher aufgespürt. Es war ein Fehler gewesen, ihn als Feind gehen zu lassen, ein Fehler, der sich vielleicht noch schwer rächte.

Für den Augenblick freilich trat selbst das in den Hintergrund vor einem nahen, drohenden Verlust, der bei dem Präsidenten alle anderen Sorgen zurückdrängte. Die Gebirgsbahn, die in wenig Tagen vollendet sein sollte, war durch den Ausbruch des Hochwassers aufs äußerste gefährdet. Von allen Punkten kamen bedrohliche Meldungen, eine schlimme Nachricht jagte die andere. Der Schaden war schon jetzt ein bedeutender; wenn der Sturm anhielt und das Wasser noch weiter stieg, konnte er unabsehbar werden und Nordheim war mit Summen betheiligt, deren Verlust selbst einem Manne von seinem Reichthum verhängnißvoll werden konnte.

Im Salon befanden sich Erna und Wally, deren Abreise sich gleichfalls verzögerte. Der Prozeß, der Gersdorf nach Heilborn führte, war mit einem Vergleich beendigt worden, dessen notarielle Feststellung den Rechtsanwalt noch einige Tage länger aufhielt. Seine Frau war entzückt darüber, denn sie hielt in ihrer Eigenschaft als Schutzgeist ihre Anwesenheit im Nordheimschen Hause für unbedingt nothwendig, mußte sich aber zu ihrer großen Enttäuschung bald genug überzeugen, daß es hier durchaus nichts zu schützen gab.

Der Chefingenieur war zurückgetreten, seine Verlobung mit Alice aufgehoben, das war jetzt auch der Familie kein Geheimniß mehr, aber die beiden hatten das ganz unter sich allein abgemacht, und Alice verweigerte mit hartnäckiger Verschlossenheit selbst der Jugendfreundin jede nähere Erklärung. Benno zeigte sich ebenso unzugänglich und schien an dem unsinnigen Gedanken einer Trennung festzuhalten und was das Schlimmste war, kein Mensch verlangte den Rath und die Hilfe von Frau Doktor Gersdorf, die begreiflicherweise entrüstet war über diese Undankbarkeit.

„Das habe ich nun von meiner Menschenliebe!“ sagte sie in der übelsten Laune. „Jetzt sitze ich hier wie aus einer wüsten Insel mitten im Ocean, abgeschnitten von aller Welt, getrennt von meinem Manne, jeden Augenblick in Gefahr, fortgeschwemmt zu werden. Albert wird aus einem der wüthenden Gewässer meine Leiche auffischen und als trostloser Witwer nach der Stadt zurückkehren. Ob er wohl jemals wieder heirathen wird? Es wäre entsetzlich, ich würde es ihm im Grabe nicht verzeihen; aber die Männer sind zu allem fähig!“

Erna, die am Fenster stand und in den Sturm und Regen hinausblickte, hörte kaum auf das Geplaudere; sie war mit ihren Gedanken ganz wo anders.

„Wir sind ja hier nicht gefährdet, Wally,“ entgegnete sie gepreßt. „Das Haus in seiner hohen Lage ist sicher, aber ich fürchte, in Oberstein sieht es bedrohlich aus, dort – und auf der Bahn!“

„O, die wird der Chefingenieur retten“ erklärte die junge Frau zuversichtlich. „Man hört es ja von allen Seiten, daß er sich wie ein Held benimmt und das beinahe Unmögliche leistet. Wir haben diesem Elmhorst doch unrecht gethan! Er hat Alice freigegeben, trotzdem er mit ihrer Hand Millionen verliert, und jetzt setzt er alles dran, Deinem Onkel die Bahn zu erhalten, obgleich sie sich feindselig getrennt haben. Gestehe es nur, Erna, Du hattest auch ein Vorurtheil gegen ihn.“

„Ja – ich hatte es!“ sagte Erna leise.

„Da kommt Dein Bräutigam!“ ries Wally, die zu ihr getreten war. „Aber wie sieht er aus! Das Wasser fließt ja förmlich von seinem Regenmantel, er hat wahrhaftig in diesem Wetter den Weg von Oberstein gemacht. Ich glaube, er geht durch Feuer und Wasser, um eine Stunde bei Dir zu sein. Aber das hört auf in der Ehe, mein Kinde glaube einer erfahrenen Frau, die schon vier Monate verheirathet ist. Mein Herr und Gemahl sitzt ganz ruhig in Heilborn bei seinen Akten und wartet, bis der Weg zu mir frei ist. Dein romantischer Ernst scheint freilich aus anderem Stoffe gemacht zu sein; aber was hat er denn eigentlich? Seit drei Tagen geht er herum wie eine leibhaftige Wetterwolke und läßt Dich dabei nicht einen Moment aus den Augen, wenn er bei Dir ist. Es ist förmlich beängstigend, Euch beide anzusehen, und es ist auch irgend etwas vorgefallen zwischen Euch, das redest Du mir nicht aus. So sei doch endlich einmal offen gegen mich, Erna, schütte Dein Herz aus, mir kannst Du unbedingt vertrauen, ich bin verschwiegen wie das Grab.“

Sie legte betheuernd die Hand auf die Brust, aber Erna, anstatt sich in ihre Arme zu werfen und zu beichten, erwiderte nur den Gruß ihres Bräutigams, der soeben vom Pferde stieg, und sagte dann abweisend:

„Du täuschest Dich, Wally, es ist nichts vorgefallen durchaus nichts.“

Frau Doktor Gersdorf wandte sich ärgerlich ab, auch hier brauchte man keinen Schutzgeist; diese Menschen hatten eine merkwürdige Art, alles mit sich allein abzumachen. Die kleine Frau begriff das nicht, ihr war die Mittheilung ein Lebensbedürfniß, und beleidigt über diesen Mangel an Vertrauen rauschte sie zur Thür hinaus.

Kaum war sie fort, so trat Waltenberg ein. Er hatte Hut und Mantel bereits abgelegt, aber sein Anzug trug trotzdem die Spuren des Wetters, gegen das keine Hülle schützte. Er näherte sich seiner Braut und begrüßte sie mit der gewohnten ritterlichen Artigkeit; aber es lag etwas Eisiges in dieser Begrüßung und in seinem ganzen Wesen, dem das Glühen der dunklen Augen seltsam widersprach. Wally hatte nicht so unrecht, er glich in der That einer finsteren Wetterwolke, die drohendes Unheil in ihrem Schoße birgt.

Erna trat ihm mit sichtbarer Befangenheit entgegen, sie hatte diese Ruhe und Kälte fürchten gelernt.

„Nun, wie steht es draußen?“ fragte sie hastig. „Du kommst von Oberstein?“

„Ja, aber ich habe einen Umweg machen müssen; denn auch die Bergstraße ist schon überfluthet. Oberstein selbst scheint ziemlich sicher zu sein; aber die Bewohner haben vollständig den Kopf verloren, alles jammert und rennt in sinnloser Angst durch einander. Doktor Reinsfeld thut das Möglichste, sie zur Vernunft zu bringen, und Gronau unterstützt ihn dabei nach Kräften; aber die Menschen gebärden sich wie die Unsinnigen, weil sie ihr bißchen Hab und Gut bedroht glauben.“

„Dies bißchen Hab und Gut ist aber alles, was sie besitzen,“ warf das junge Mädchen ein. „Ihre und ihrer Familien ganze Existenz ruht darauf.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_803.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2019)