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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Schriftführer des Volkshauses zu Erfurt, Führer der preußischen Junker gegen alle sträflichen Neuerungen des „tollen Jahres“ 1848, sonst aber vorläufig noch nichts weiter, war höchst ergrimmt gegen zwei Preßberichterstatter der Erfurter Tribüne, welche Tag für Tag an einflußreiche Zeitungen ihre Berichte in sehr entschieden antiösterreichischem Sinne sandten.

Bismarck schrieb nun aus eigener Machtvollkommenheit, aber mit der Unterschrift: „Das Schriftführeramt des Volkshauses zu Erfurt, von Bismarck“ an die beiden Berichterstatter, daß diesen die Sitze auf der Zeitungstribüne entzogen würden, wenn sie nicht augenblicklich ihre verwerflichen Angriffe gegen Oesterreich einstellten. Der eine der beiden Betroffenen, Ludwig von Rochau, später als Schriftsteller und Reichstagsabgeordneter einer der treuesten Vor- und Mitkämpfer der neuen Zeit, die Bismarck heraufführte,[1] beantwortete diese verletzende Zuschrift Bismarcks in sehr höhnischer und ungehöriger Form. Der andere dagegen fragte einfach und höflich bei Simson an, ob der junge Schriftführer des Volkshauses wirklich berechtigt gewesen sei, diese Aufforderung amtlich an ihn zu erlassen. Beim Beginn der nächsten Sitzung forderte Bismarck mit Ungestüm vom Präsidenten Simson Satisfaktion gegen Rochaus ungehörige Antwort. Simson sagte ihm diese zu, bestellte ihn aber auch wegen der dem anderen Berichterstatter zu gewährenden „Satisfaktion“ auf abends acht Uhr in das Präsidentenzimmer des Volkshauses Erfurt. Bismarck erschien zur bestimmten Stunde − aber nur um jede Verbindlichkeit einer Satisfaktion seinerseits gegenüber dem „lästigen Federfuchser“ zu bestreiten.

„Da saßen wir denn bis zwei Uhr nachts,“ erzählte mir Simson vor fast zwanzig Jahren von dieser Unterredung, „und tauschten unsere Gedanken aus, daß die Wände dröhnten. Sie müssen sich den gewaltigen Mann zwanzig Jahre jünger denken. Und am Ende gab Bismarck doch Satisfaktion und ich ihm auch, indem ich seinem Beleidiger den Sitz entzog. Der andere Berichterstatter behielt natürlich den seinen.“

Bekanntlich ist auch das Erfurter Verfassungswerk gescheitert. Die innere und äußere Reaktion gegen bürgerliche Freiheit und nationale Hoffnungen kam überall, und vorweg in Preußen zum Durchbruch. Preußen demüthigte sich in Olmütz vor Rußland, ließ Kurhessen und Schleswig-Holstein vergewaltigen und die deutsche Flotte versteigern. Der deutsche Bundestag wurde wieder eingesetzt, „reaktivirt“, wie der Kunstausdruck für das moderne Wunder hieß, das einen Todten auferweckte, der sich im Frühjahr 1848 feierlich selbst für todt erklärt hatte. Es war die Zeit, von der Dahlmann sagte: „Das Unrecht hat alle Scham verloren“. In diesen Jahren war keine Stätte des Wirkens mehr für Simsons freiheitlichen und deutschen Sinn im preußischen Abgeordnetenhause.

Ende 1852, nach heftigen Kämpfen gegen die Politik Manteuffels, entsagte er dem politischen Leben und widmete sich nur seinem Amt und seinen Studenten, bis mit der Regentschaft des Prinzen von Preußen (des späteren Kaisers Wilhelm I.) und der „liberalen Aera“ unter dem Ministerium Schwerin-Auerswald eine neue Zeit für Preußen und Deutschland heraufzog. Da ließ sich Simson 1858 von neuem ins preußische Abgeordnetenhaus wählen und war hier bis 1866 einer der vornehmsten Führer der „Altliberalen“, steter Vorsitzender der wichtigen Justizkommission des Hauses und 1860 und 1861 Präsident des preußischen Volkshauses. In dieser Eigenschaft brachte er seinem König Wilhelm I. am 18. Oktober 1861 zu dessen Krönung die Glückwünsche der preußischen Volksvertretung in Königsberg dar.

Das Jahr 1866 hatte die bis dahin vergeblichen Anstrengungen der Freunde der preußischen Vormacht in Deutschland erfüllt und die alten Parteinamen verwischt. Simson zählte sich fortan zu der nationalliberalen Partei. Aber das allgemeine Vertrauen der zum norddeutschen und deutschen Reichstag Erwählten entrückte den ehrwürdigen Präsidenten des Frankfurter und Erfurter Parlamentes und preußischen Abgeordnetenhauses dem Parteikampf, indem es ihn auch im deutschen Reichstag von 1867 bis 1874 auf den Stuhl des Präsidenten berief Und so hoch wir von seinen Nachfolgern in dieser Würde denken, jeder von ihnen wird doch gern in Simsons unvergleichlicher Unparteilichkeit, Milde und Festigkeit zugleich, seiner unnachahmlichen Kunst, auch die bewegtesten Debatten würdevoll, gerecht und mit strenger Handhabung des Hausgesetzes, der Geschäftsordnung, zu leiten, seinen Meister anerkennen. „Aus Gesundheitsrücksichten“ − die ausnahmsweise leider kein Vorwand waren − legte Simson 1874 dieses hohe Amt nieder und entsagte bald darauf dem parlamentarischen Leben für immer.

Aber die Zeit dieses siebenjährigen Wirkens im deutschen Reichstag und an der Spitze des deutschen Zollparlaments (1868 bis 1870) hat dem hochverdienten Manne, der einst, 1849, mit fast gebrochenem Herzen aus dem preußischen Königsschlosse trat, als sein König die vom Frankfurter Parlament in heißer Arbeit geschmiedete Kaiserkrone ablehnte, doch in Fülle die ausgleichende Gunst eines seinem Volke gnädigen Schicksals geboten. Bei jeder Gelegenheit, bei der die deutsche Volksvertretung den Schirmherrn des norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches feierlich begrüßte, war Simson der Führer und Sprecher, so am 3. Oktober 1867 bei Ueberreichung der Adresse des Reichstags auf der Hohenzollernburg in Sigmaringen, so am 19. Juli 1870 in Berlin am Tage der französischen Kriegserklärung, so endlich am 18. Dezember 1870, an der Spitze einer anderen, glücklicheren Kaiserdeputation, im französischen Königsschlosse zu Versailles. Deutlicher kann die geheimnißvolle Fügung der Vorsehung nicht zu Menschen reden, als sie die deutsche Kaiserkrone hervorgehen ließ aus den Mauern des Lustschlosses Ludwigs XIV., des hochmüthigsten Feindes unseres Volkes!

Und es war auch wahrlich kein Zufall, daß Simson, der hochverdiente Jurist und Vaterlandsfreund, als Präsident des deutschen Reichsgerichts berufen wurde, als dieses am 1. Oktober 1879 seine Thätigkeit eröffnete. In seiner rückhaltlosen Würdigung geschichtlicher Ereignisse und geschichtlich bedeutsamer Menschen soll Bismarck damals seinem Kaiser den einstigen Präsidenten des Frankfurter und Erfurter Parlamentes und des deutschen Reichstags als den Einzigen bezeichnet haben, der nach seinem Wirken, seinen Verdiensten und seiner Bedeutung in Frage kommen könne, um an der Spitze des neuen höchsten Gerichtshofes für das Deutsche Reich zu stehen. Und damit hat der deutsche Kanzler sicherlich in dieser wichtigen Frage das Richtige getroffen, denn Simsons Name an dieser hohen Stelle verhieß die Erfüllung aller der stolzen Hoffnungen, welche das deutsche Volk auf das höchste Bollwerk seiner Rechtseinheit, das Reichsgericht setzte − und die neun Jahre der Wirksamkeit desselben haben diesen Hoffnungen Erfüllung gegeben.

Freilich, ein Ruheposten, wie ihn andere Nationen den zu Jahren gekommenen Vorkämpfern ihrer nationalen Größe gönnen mögen, ist dieses Amt nicht. Wie unser neunzigjähriger Kaiser Wilhelm noch auf seinem Sterbebett nicht die Zeit fand, müde zu sein, so denken und handeln auch die Männer, die mit ihm Deutschland zu dem machten, was es heute geworden ist, unter ihnen Präsident Simson.

Er hat am Sitze des Reichsgerichts in Leipzig den herbsten Schmerz seines langen Lebens erlitten durch den Tod der edlen Gattin, die ihm seit Jugendtagen das Leben verschönte und allen unvergeßlich war, die ihr nahten. Aber dennoch steht er ungebrochen aufrecht und geistesfrisch, dem jüngeren Geschlecht ein Muster treuester Pflichterfüllung. Präsident Simson hat aber auch an dem Sitze des deutschen Reichsgerichtes in Leipzig manchen Tag freudiger Erhebung erlebt seit jenen glänzenden Festen, welche die Stadt Leipzig dem in seine Mauern einziehenden Reichsgericht am 1. Oktober 1879 gab. Keiner der Freuden- und Ehrentage jedoch, die er hier feierte, kann den 31. Oktober an Bedeutung erreichen, da Kaiser Wilhelm II. selbst zugleich mit seinem erlauchten Freunde und Bundesgenossen, dem König Albert von Sachsen, und umgeben von Vertretern des Bundesrathes und Reichstages, Leipzigs Mauern betrat, um hier den Grundstein zum neuen Reichsgerichtsgebäude zu legen!

Möge auch in diesem von kaiserlicher Huld geweihten Hause Präsident Simson noch lange an der Spitze des deutschen Reichsgerichts ausdauern!

Hans Blum.     
  1. Rochau ist der Erfinder des Worten „Realpolitik“ und war ihr Wortführer, lange ehe die Zeitgenossen die Politik des Kanzlers mit diesem Worte kennzeichneten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_780.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)