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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

ein Astronom, Observator an einer deutschen Universitätssternwarte, Doktor Helbig mit Namen, der sich mir als ein einstiger Zuhörer vorgesteckt hatte, und dieser erzählte uns ein romantisches Liebesabenteuer, das er auf fröhlicher Studentenfahrt durch den Thüringer Wald einst erlebt hatte, mit einem Mädchen, an das er sichtlich noch heute mit Zärtlichkeit dachte, doch wußte er weder wie sie hieß, noch wer sie war, noch wo sie dauernd wohnte. Doch halt, den Vornamen hatte er erfahren. Der Name lautete – Marie …“

„Onkel, Onkel! Und wie sah er aus, der Erzähler?“

„Ei, recht hübsch, Kind. Gescheit und dabei ganz unternehmend. Doch wozu da viel Worte machen! Wir sind ja zur Stelle und wenn ich mich nicht irre, so ist der dort auf dem Felsen mitten im Alpenrosenhag sitzende junge Mann, der eben seinen Feldstecher auf uns richtet, der, den ich meine. Siehst Du, er hat Dich betrachtet, er zuckt zusammen, er blickt wieder her, nun läßt er das Glas sinken, sinnt und sinnt, nein, springt auf – er kommt uns entgegen! Da frag ihn selber, ob er Dir außer seiner Geschichte von gestern noch etwas Besonderes zu erzählen hat.“

* * *

Die Sonne stand im Zenith. Da oben auf der Meglisalp ließ sie ihre Strahlen frei und lustig spielen. Sie ließ sich genügen, hier nur als Lichtspenderin zu walten – hei, wie funkelte es! –; Wärme gab es schon genug ohne sie. Wärme echter Festesfreude, theilnehmender Freundschaft, seliger Liebe. Auch durch die Stube, in der gestern Abend die Eingeregneten beim trüben Schein der Lampe gesessen, fluthete hell ihr Licht und vergoldete das schlichte Tafelgeräth auf dem Tisch, um welchen eine fröhliche Festversammlung bei der Mahlzeit saß. Die Mahlzeit war sehr einfach; aber nicht das glänzendste Festessen kann gleichzeitig so fröhlich und so weihevoll verlaufen. Eben erhob sich Herr Kurz: „Meine Damen und Herren,“ sagte er in seiner behaglichen Weise. „Gestern Abend schlossen wir unser Symposion in der Alpenhütte mit dem Rufe ‚Glückliche Reise‘ und ,Gute Heimkehr‘ und heute früh trennten wir uns mit dem Wunsche ,Auf Wiedersehen!‘ – Welches Glück aber noch diese Säntisfahrt zur Reife bringen und welche Heimkehr sie zweien der Bergfahrer zusichern werde, ahnten wir alle wohl gleich wenig. Und welch ein Wiedersehen uns hier so bald bevorstehen würde, uns allen, aber vor uns allen dem wackeren Doktor Helbig und seiner nunmehrigen Braut, wer hätte dies voraussagen wollen? Nun schmähe noch einer die Wirklichkeit: sie sei aller Poesie, aller Schönheit bar! Die schönsten Märchen erdichtet das Leben selbst. Reist nur hinein in die Welt, und ihr erlebt auch heute noch in unseren Tagen der Nüchternheit wundersame und abenteuerliche Geschichten die Menge. Da seht unser Brautpaar an! Die beiden werden das Reisen, sein Glück, seine Wunderkraft für alle Zeiten segnen. Möge ihnen auch daheim am häuslichen Herd nicht weniger Segen erblühen! Das wünschen und hoffen und glauben wir. Darauf lassen Sie uns mit ihnen anstoßen und nochmals rufen: ‚Glückliche Reise‘ – und ,Gute Heimkehr‘ und – ‚Auf Wiedersehen!‘“ …




Die Braut Heinrichs von Kleist.
Von Schmidt-Weißenfels.

In der Oderstraße zu Frankfurt an der Oder, mitten in der außer der Meßzeit stillen Stadt, in unmittelbarer Nähe der alten Oberkirche, stand das einfache Haus, welches dem Oberstwachtmeister von Kleist gehörte. Dicht nebenan wohnte der General von Zenge. Die Kameraden, die in demselben Infanterieregiment dienten, lebten als gute Freunde mit einander, und ihre Kinder spielten zusammen. Die Hintergärten der beiden Häuser waren nur durch einen niedrigen Lattenzaun getrennt und im Sommer natürlich ein Tummelplatz der Kinder, die auf die leichte Scheidewand der Grundstücke keine Rücksicht nahmen, um zusammen zu sein. In diesem traulich nachbarlichen Verhältniß änderte sich auch nichts, als der Oberstwachtmeister starb.

Der einzige Sohn desselben aus zweiter Ehe, Heinrich, war in seinem elften Jahre nach Berlin in eine Predigerpension geschickt worden und sollte Soldat werden. In der Ferienzeit kam er zu seiner Familie zurück, und seit er dann mit fünfzehn Jahren als Junker in ein Potsdamer Regiment getreten, benutzte er auch den gelegentlichen Urlaub, um ihn im häuslichen Kreise der Seinigen zu genießen. Der junge Kriegsmann, der sich in einer gewissen Gemessenheit des Benehmens und in frühreifer Weisheit gefiel, spielte zwar nicht mehr mit den jüngeren Zengeschen Kindern, aber er suchte desto beflissener den beiden ältesten Schwestern Minette und Luise seine Berlin-Potsdamer Eleganz zu beweisen. Waren sie auch jünger als er, so waren sie doch schon recht empfänglich für seine ersten Versuche, den Hof kavaliermäßig zu machen; zudem sicherte ihm Geist und Bildung eine entschiedene Ueberlegenheit über die einfachen Kinder, und er gewann damit bei seinen ehemalige Spielgenossinnen ein großes, seiner Eitelkeit schmeichelndes Ansehen.

In den neunziger Jahren mußte er mit in den Krieg gegen Frankreich ziehen. Es war ein kläglicher Feldzug, der bald mit einem faulen Frieden endigte. Dieser Umstand trug viel dazu bei, dem 1795 zum Fähnrich avancirten Jüngling den Soldatenstand zu verleiden, zu welchem er von Hause aus schon keine rechte Lust und Liebe gehabt. Darüber ließ er in den Briefen an die Seinigen keinen Zweifel. Er war von einem anderen, friedlicheren Ehrgeiz erfüllt. Wie er unter der Fahne in stillem Eifer an seiner Geistesbildung gearbeitet hatte, so sehnte er sich, kaum daß er Offizier geworden, aus dem dienstlichen Zwang hinaus, um frei, mit dem geringen Vermögen, das ihm als väterliches Erbtheil gehörte, seinen Neigungen für die Wissenschaften zu leben. Vergebens suchten seine Tante, die den Kleistschen Haushalt in Frankfurt führte, und seine ältere, von ihm besonders geliebte Schwester Ulrike ihn umzustimmen; sie konnten die Gewalt nicht ahnen, mit welcher dieser stürmische Geist nach Freiheit rang. Eines Frühlingstages im Jahre 1799 kam er in nachlässiger Civilkleidung nach Frankfurt in das Haus seiner Familie und kündigte derselben zu ihrem Schrecken und Kummer lakonisch an, daß er als Lieutenant seinen Abschied genommen und daß er nunmehr studiren wolle.

Man mußte ihm seinen Willen lassen; denn er behauptete mit der Bestimmtheit eines Menschen, der den geistigen Beruf unabweisbar in sich fühlt, daß er anders als durch die Hingabe an die Wissenschaften nicht glücklich sein könne. Damals hatte Frankfurt noch seine kleine Universität, und obwohl Heinrich von Kleist schon zweiundzwanzig Jahre zählte, so war es am Ende doch noch nicht zu spät zum Studiren und manches bemooste Haupt übertraf ihn noch an Alter.

So studirte er denn eifrigst und hätte bei seiner hervorragenden Begabung alle Aussicht für die gelehrte Laufbahn gehabt. Er spielte sogar aus innerem Drange den Schulmeister, wo er nur konnte – im Hause bei seinen jüngeren Geschwistern und bei Zenges gegenüber den beiden Schwestern, die inzwischen zu Jungfrauen erblüht waren. Er ruhte nicht, bis er sie und einige ihrer Freundinnen zu einem kleinen Kollegium vereinigt hatte, dem er Vorlesungen über Kulturgeschichte hielt, wozu er sich mit besonderer Wichtigkeit in einem Zimmer seines väterlichen Hauses eigens ein Katheder hatte bauen lassen. Er lehrte so mit großer Genugthuung, was er als Student eben gelernt, ließ die jungen Damen deutsche Aufsätze, Denk- und Stilübungen machen, überwachte und regelte ihre Lektüre, dramatisirte Sprichwörter und studirte ihre Ausführung ein – kurz und gut, er bewegte sich durchaus als berufener Erzieher und Haushofmeister in diesen beiden Familienkreisen des eigenen und des Nachbarhauses, wenn auch als ein etwas selbstherrlicher.

Von den Schwestern Minette und Luise von Zenge gefiel ihm eine sowohl wie die andere. Aber Luise erschien ihm zu geistreich und selbständig. Dagegen war Minette, oder wie er sie bei ihrem deutschen Vornamen nannte, Wilhelmine, ein weichmüthiges Mädchen von zwanzig Jahren, ein Blondkopf mit treuherzigen Augen, mit einer gefühlvollen Seele, die sich vertrauensvoll an seine Lehrhaftigkeit hingab und alle seine Launen und Ansprüche als Ueberlegenheit eines männlichen Geistes in Demuth verehrte. Sie war weiches Wachs unter seinen Händen, ganz so,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_644.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)