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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

zu geben. Ich lasse die junge Dame, der jede stärkere Bewegung untersagt war, täglich Spaziergänge machen und diese täglich weiter ausdehnen, habe ihr auch ein mäßiges Bergsteigen angerathen und sie ersucht, möglichst den ganzen Tag im Freien zuzubringen, da die Höhenluft außerordentlich günstig auf ihr Befinden wirkt; bis jetzt habe ich alle Ursache, damit zufrieden zu sein.“

„Gewiß, das sind wir alle,“ stimmte der Präsident bei, dessen Blick sich bei dieser im ruhigsten Tone geführten Unterhaltung förmlich einbohrte in die Züge des jungen Arztes. „Wie gesagt, ich bin Ihnen sehr dankbar – Sie leben in Oberstein, wie Wolfgang mir schrieb? Sind Sie schon lange dort?“

„Seit fünf Jahren, Herr Präsident.“

„Und Sie denken auch dort zu bleiben?“

„Wenigstens vorläufig, bis sich irgend eine andere Stellung findet.“

„Nun, das wird doch keine Schwierigkeiten haben,“ warf Nordheim hin und sprach weiter.

Er war sehr höflich, aber auch sehr vornehm und augenscheinlich bemüht, eine unübersteigliche Schranke aufzurichten, die jede mögliche Vertraulichkeit ausschloß. Kein Wort, kein Blick verrieth, daß er wußte, der Sohn seines einstigen Jugendfreundes stehe vor ihm; trotz seines anscheinend verbindlichen Wesens war er doch so fremd und eisig wie nur möglich.

Benno fühlte das sehr gut, war aber keineswegs überrascht dadurch, denn er hatte nichts anderes erwartet. Er wußte ja, daß die Erinnerung, die sein Name wachrief, für den Präsidenten keine angenehme war, und nahm in seiner Bescheidenheit gar nicht an, daß seine ärztlichen Erfolge bei der Tochter den Vater umstimmen könnten. Er dachte natürlich nicht daran, Beziehungen geltend zu machen, die von jener Seite so vollständig ignorirt wurden, aber die Begegnung war ihm peinlich, und er ergriff die erste Gelegenheit, sich zu verabschieden.

Nordheim blickte ihm einige Sekunden lang schweigend, aber mit finster zusammengezogenen Brauen nach, dann wandte er sich zu Wolfgang und fragte kurz und scharf:

„Wie kommst Du zu dieser Bekanntschaft?“

„Ich habe es Dir ja bereits gesagt, Reinsfeld ist mein Jugendfreund, den ich zufällig hier in Oberstein wiederfand.“

„Und Du verkehrst Jahre lang mit ihm, ohne mir auch nur seinen Namen zu nennen?“

„Das geschah auf Bennos ausdrücklichen Wunsch, denn Dein Name ist ihm so wenig fremd wie Dir der seinige. Du willst allerdings nicht daran erinnert sein, daß sein Vater Dein Studiengenosse war – das sah ich heute.“

„Was weißt Du davon?“ fuhr der Präsident heftig auf. „Hat der Doktor Dir davon gesprochen?“

„Allerdings, und er teilte mir auch mit, daß die einstige Jugendfreundschaft mit einem vollständigen Bruche geendigt hat.“

Nordheim stützte wie zufällig die Hand auf die Lehne des Sessels, der vor ihm stand; sein Gesicht war wieder bleich geworden und seine Stimme klang fast heiser, als er fragte.

„So – und was weiß er darüber?“

„Nicht das Geringste! Er war ja damals noch ein Knabe und hat nie den Grund jenes Bruches erfahren, aber er war viel zu stolz, sich Dir, der so hoch gestiegen ist, in irgend einer Weise zu nähern, deshalb nahm er mir das Versprechen ab, ihn nicht zu nennen, so lange das zu vermeiden war.“

Nordheims Brust hob sich unwillkürlich unter einem tiefen Athemzuge, aber er antwortete nicht, sondern trat an das Fenster.

„Mir scheint, Doktor Reinsfeld hatte trotz alledem Anspruch auf einen wärmeren Empfang,“ hob Wolfgang wieder an, den die eisige Art, mit der man seinen Freund behandelte, verletzt hatte. „Ich kann natürlich nicht beurtheilen was damals geschehen ist –“

„Ich wünsche auch nicht, daß Du Dich damit abgiebst!“ fiel ihm der Präsident schroff ins Wort. „Es waren rein persönliche Verhältnisse, über die mir allein ein Urtheil zusteht, aber Du wußtest, daß mir dieser Reinsfeld nicht sympathisch sein konnte, und da begreife ich nicht, wie Du dazu kamst, ihn in mein Haus einzuführen und ihm die Behandlung meiner Tochter zu übergeben. Das ist eine Eigenmächtigkeit, die ich durchaus nicht billige.“

Er war offenbar aufs äußerste gereizt durch jene Begegnung und ließ nun diese Gereiztheit an seinem Schwiegersohne aus, aber dieser schien durchaus nicht gesonnen, einen Ton zu dulden, den er heute zum ersten Mal hörte.

„Ich bedaure es, Papa, wenn Dir die Sache unangenehm ist,“ sagte er kalt, „aber von Eigenmächtigkeit kann hier wohl nicht die Rede sein. Ich habe doch zweifellos das Recht, für meine Braut einen Arzt zu wählen, der mein volles Vertrauen besitzt und dieses Vertrauen, wie Du selbst zugeben mußt, so glänzend rechtfertigt. Ich konnte unmöglich voraussetzen, daß eine alte Feindschaft, die vor mehr als zwanzig Jahren entstand und an der Benno ebenso unschuldig wie unbetheiligt ist, Dich so ungerecht machen würde. Dein ehemaliger Freund ist ja längst todt und damit sollte auch alles andere begraben und vergessen sein.“

„Darüber habe ich doch wohl allein zu entscheiden!“ unterbrach ihn Nordheim mit steigender Heftigkeit. „Genug, ich will nicht, daß dieser Mensch in meinem Hause verkehrt. Ich werde ihm ein Honorar schicken – selbstverständlich ein sehr hohes Honorar – und mir seine ferneren Besuche unter irgend einem Vorwande verbitten. Dich aber ersuche ich gleichfalls, diesen Umgang aufzugeben – ich wünsche ihn nun einmal nicht.“

Die Worte klangen wie ein Befehl, aber der junge Chefingenieur war nicht der Mann, der sich befehlen ließ, er trat einen Schritt zurück und seine Augen sprühten auf.

„Ich glaube Dir bereits gesagt zu haben, Papa, daß Doktor Reinsfeld mein Freund ist,“ versetzte er mit aller Schärfe, „und da kann selbstverständlich von Aufgeben keine Rede sein. Es ist eine Beleidigung für ihn, wenn man ihn nach der aufopfernden Weise, in der er sich um Alices Gesundheit bemüht hat, mit einem ‚Honorar‘ verabschiedet, noch ehe die Kur beendet ist, und ich muß Dich überhaupt bitten, in einem andern Tone von ihm zu sprechen. Benno ist ein Mann, der die höchste Achtung verdient, er verbirgt unter seinem anspruchslosen und etwas unbeholfenen Wesen Kenntnisse und Charaktereigenschaften, die man nur bewundern kann.“

„Wirklich?“ Der Präsident lachte laut und spöttisch auf. „Ich lerne Dich ja heute von einer ganz neuen Seite kennen, Wolfgang, als schwärmerischen und aufopfernden Freund – ich hätte Dir das kaum zugetraut.“

„Wenigstens pflege ich für meine Freunde einzustehen und sie nicht im Stiche zu lassen,“ war die sehr bestimmte Antwort.

„Ich wiederhole Dir aber, daß ich diesen Mann in meinem Hause nicht sehen will,“ sagte Nordheim herrisch, „und darüber habe ich hoffentlich zu bestimmen.“

„Gewiß, aber in meinem künftigen Hause wird Benno stets ein willkommener Gast sein und ich werde mich rückhaltlos gegen ihn aussprechen, wenn ich wirklich genöthigt sein sollte, Deinen Wunsch hinsichtlich seines Fortbleibens zur Sprache zu bringen und Dich – zu entschuldigen.“

Die Worte ließen an Energie nichts zu wünschen übrig; es war das erste Mal, daß eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden entstand; bisher waren ihre Ansichten und Interessen durchaus gleichartig gewesen, aber Wolfgang zeigte schon bei diesem ersten Konflikt, daß er kein fügsamer Schwiegersohn war und seinen Standpunkt mit aller Entschiedenheit zu wahren wußte. Er gab sicher nicht nach, das sah auch der Präsident, aber dieser mochte wohl irgend einen Grund haben, den Streit nicht auf die Spitze zu treiben, denn er lenkte ein:

„Der Gegenstand ist es gar nicht werth, daß wir uns so darüber ereifern,“ sagte er achselzuckend. „Was geht mich im Grunde dieser Doktor Reinsfeld an! Ich will eine unangenehme Erinnerung loswerden mit seinem Anblick – weiter nichts. Trotz Deiner begeisterten Lobpreisung erlaube ich mir, seine Persönlichkeit ebenso unbedeutend zu finden, als der Vorfall es war, der mich gegen seinen Vater einnahm. Also lassen wir meinetwegen die Sache auf sich beruhen!“

Er hätte seinen Schwiegersohn nicht mehr in Erstaunen setzen können, als durch diese ungewohnte Nachgiebigkeit. Die Gleichgültigkeit, die er jetzt zeigte, stand im vollsten Widerspruch mit seiner fieberhaften Gereiztheit von vorhin. Wolfgang schwieg zwar und schien zufriedengestellt, aber jene alte Feindschaft gewann doch jetzt eine ganz andere Bedeutung für ihn. Er war fest überzeugt, daß es sich damals nicht um etwas Unbedeutendes gehandelt hatte; ein Mann wie Nordheim hielt nicht zwanzig Jahre lang die Erinnerung an irgend eine Bagatelle fest.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_631.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2018)