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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

in demselben Hause gewohnt – ,Ei was da‘ unterbrach sie die lebenslustige alte Dame, ‚siehst Du denn nicht, daß der Herr sehr erfreut ist über den Zwischenfall? Nur ohne Umstände! Schnell ausgestiegen! Dafür sind wir auf Reisen. Kutscher, fahren Sie nur immer voraus und halten Sie, wo die Wege nach Ober- und Untergosau sich theilen.‘

Auf diesem so originell eingeleiteten Spaziergang durch eines der schönsten Alpenthäler der Welt, vor uns die zackige Wand der Donnerkogel, überragt von einigen schneeigen Spitzen des Dachsteins, lernten wir uns nun eigentlich erst kennen. Sie hatte bisher in Ischl wie auch in Wien ein recht einsames Leben geführt. Das Leiden ihrer Mutter und deren Kur-Diät hatten auch ihrem Bewegungsbedürfniß enge Schranken gezogen. Der oberflächliche Umgangston in den Gesellschaftskreisen, mit denen die Mutter Verkehr Pflegte, hatte sie, wie schon gelegentlich der früheren Aufenthalte in Ischl, wenig befriedigt. Ja, sie war eine Aristokratin, sie war in konservativen und feudalen Anschauungen aufgewachsen; aber sie hatte das bürgerliche Element in seinen besten Vertretern, in Künstlern und Gelehrten, kennengelernt und in ihrer stillen Wohnung, wo sie seit des hochgebildeten Vaters Tode viel einsame Stunden gehabt, hatte ihr die sonst von niemand benutzte Bibliothek des Verstorbenen Quellen höchster Bildung erschlossen. Wohl war sie in einer Klosterschule erzogen und dann von einer französischen Gouvernante mit jenen Kenntnissen versehen worden, die nur auf äußere Repräsentation berechnet sind, aber sie hatte seitdem auch Goethes ,Faust‘ und Humboldts ,Kosmos‘ gelesen und ihre mir so sympathischen Augen blickten mit besserer Einsicht in die Welt, als so mancher meiner früheren Bekannten, der sich hoher Bildung vermaß. Das alles erfuhr ich, während wir, bald allein, bald mit der freundlichen Patronin uns unterhaltend, der in stiller Bergeinsamkeit gelegenen Gosauschmiede zuschritten. Daß ich aber den Muth zu all den Fragen fand, verdankte ich einzig dem befreienden und belebenden Einfluß der erhabenen Alpennatur. Wie bringt doch das Leben in der freien Natur der Natürlichkeit näher; wie schnell entstand hier eine herzerquickende Intimität zwischen zwei Menschen, die drin in der Stadt, obgleich in demselben Hause wohnend, kaum mehr als drei Worte mit einander gewechselt hatten!

Aber trotz dieser Annäherung, trotz der zwischen uns emporblühenden Freundschaft blieb ein Etwas zwischen uns, was meine Hoffnungen niederdrückte. Das viele Alleinsein, das leider nicht sehr herzliche Verhältniß der Mutter zu der Tochter hatte in dieser eine gewisse Selbständigkeit des Meinens und Willens entwickelt, die mich bisweilen wie Standeshochmuth berührte.

Unser Leben im Schutze der Tante hatte sich sehr gemüthlich gestaltet. Sie fuhr mit uns spazieren, nahm die Mahlzeiten mit uns, anstrengendere Partien aber ließ sie uns allein unternehmen. So gab sie der nach einer richtigen Hochtour sich sehnenden Nichte auch die Erlaubniß, mit mir die Zwieselalp und von da den großen Donnerkogel zu besteigen, diese herrlichen Aussichtspunkte, welche gleichzeitig in die Gletscherwelt des vielgipfeligen Dachsteins aus unmittelbarer Nähe intimen Einblick und einen weiten Ausblick über die Höhen, Thäler und Seen der Salzalpen gewähren. Sie hatte gehört, daß man diese Gipfel ganz gut ohne Führer besteigen könne, und setzte meinem Vorschlag, dennoch einen solchen zu nehmen, hartnäckigen Widerspruch entgegen.

Es war ein heißer Tag, und obgleich wir sehr früh am Morgen aufgebrochen, machte sich die Gluth der Sonne bald genug geltend. Wir stiegen anfangs mit frischer Kraft und in bester Stimmung die Zickzackwege zur Zwieselalp bergan, deren Beschreiten kein beschwerliches gewesen wäre, wenn nicht der lockere Glimmerschiefer den Füßen nur einen schlüpfrigen Halt geboten hätte. Ich ließ sie zunächst voranschreiten, um ihr sofort, im Falle sie es bedürfe, als Stütze dienen zu können. Auch wenn ich nicht verliebt gewesen wäre, würde mich der Anblick der vor mir elastisch emporsteigenden schlanken Gestalt entzückt haben. Dennoch glitt ihr kleiner Fuß wiederholt aus und ich bot ihr an, sie bei der Hand zu führen. Das verdroß sie: sie bedürfe solcher Hilfe nicht. Auch bat sie mich, voran zu gehen, sie werde schon sicher nachkommen. Da ersteres bei steileren Stellen ohnedies nöthig gewesen wäre, zögerte ich nicht, es zu thun. Doch ersuchte ich sie, dicht hinter mir zu bleiben. Da sie gerade wieder ein Rutschen der Glimmersteine verursacht hatte, machte sie, darüber ärgerlich, sich dran, den steinigen Fußpfad zu verlassen und über den grasigen, mit Knieholz durchsetzten Abhang emporzuklimmen. Umsonst warnte ich sie davor; sie schwang ihren Alpenstock und stieg rüstig voran: hier sei der Weg viel weicher und zudem schneide sie dabei gehörig ab.

Ich beeilte mich nun, an ihre Seite zu gelangen; es war auch hohe Zeit. Als ich bei ihr war, hatten sich ihre Füße im Geäst eines breitwuchernden Alpenrosenbusches verfangen; als sie glücklich wieder frei war, lachte sie aber mich aus.

Der Abhang wurde steiler und steiler, moosüberwachsene Felsblöcke stellten sich in den Weg, und noch zeigte sich nicht der Fußweg, auf den sie gedacht hatte, nach wenig Minuten wieder zu gelangen. Schattenlos dehnte sich vor uns die grüne, felsübersäete Berghalde steilan; um mir zu zeigen, daß sie gar wohl den eigenwillig aufgesuchten Schwierigkeiten gewachsen sei, muthete sich die solchen Steigens völlig Ungewohnte Uebermenschliches zu. Ich drang in sie, einmal still zu stehen und zu rasten – sie schritt, schweigend mit dem Kopfe schüttelnd, weiter; da – als ich wieder von dem steinbesäeten Wege aufsah, brach sie zusammen.

Ich eilte vorwärts. Hinter einer Zwergkiefer fand ich sie, auf den Alpenrosenteppich hingestreckt. Eine Ohnmacht, ein Hitzschlag hatte sie getroffen. Ich selbst fühlte mich bei dem Anblick wie vom Schlage gerührt. Doch ermannte ich mich schnell. Ich hob ihr Haupt und legte es so, daß es vom Schatten der Kiefer gekühlt ward. Ich machte ihren Hals frei, damit sie freier athmen könne. Dann nahm ich aus meinen, leichten Rucksack die mitgenommene Weinflasche, von der zu trinken sie vorher abgelehnt hatte. Ich netzte mit dem kühlen Naß ihre Schläfe; dann setzte ich ihr die Flasche an den Mund, der fest geschlossen war. Die ersten Tropfen rieselten ungetrunken über Wangen und Kinn.

Auf einmal aber löste sich die Starrheit in dem bleichen Antlitz. Sie öffnete die Lippen und mit gierigen Zügen trank sie von dem erquickenden Wein. Und jetzt öffnete sie die Augen. Träumerisch schaute sie in die meinen, die gewiß mit warmer Zärtlichkeit auf ihr ruhten.

,Welch schöner Traum!‘ hauchte sie und schloß die Augen wieder, jetzt mit dem Ausdruck wohliger Schlafseligkeit. Dann öffnete sie aufs neue wie durstig die Lippen. Ich reichte ihr wieder den Wein; sie trank davon, doch nur wenig; dann schüttelte sie enttäuscht den Kopf.

,Fräulein Josephine!‘ rief ich, indem ich mein Gesicht zu dem ihren niederbeugte. Da fühlte ich meinen Hals von den Armen der Träumenden umfaßt, sie schmiegte ihre Wangen an die meinen:

‚Hier bin ich!‘ sagte sie leise aus dem Traume heraus und nannte mit dem Ausdruck zärtlicher Liebe meinen Namen.“

Der Professor, der selbst wie in träumerischer Entrücktheit dies letzte erzählt hatte, blickte wie erwachend auf. Er fuhr sich über die Stirn und lächelte dann seinen Zuhörern zu.

„Wozu mehr erzählen? Das war mein schönstes Reiseerlebniß! – Wie es kam, daß wir am Abend nach diesem Morgen als verlobtes Paar an jener Stätte glückseligen Unglücks wieder vorüberschreiten konnten? Das Bewußtsein weiblicher Schwäche, das von ihrer Ohnmacht zurückgeblieben, und noch ein anderes Bewußtsein hatten die Starrheit des Stolzes von ihr genommen. Sie fühlte, daß im Kampf gegen elementare Schwierigkeiten nicht der Eigenwille entscheidet, wenn ihm die Kraft zur Ausführung fehlt. Sie fühlte, daß sie mich liebe. Soll ich noch schildern, wie wir uns oben auf der luftigen Bergesspitze emporgehoben fühlten und erhaben über so vieles, was unten in den Städten die Menschen scheidet und die trennenden Vorurtheile nährt, wie wir uns so rein in unserer Menschlichkeit dort gegenüber standen, daß uns leicht zu überwinden schien, was uns noch trennte; wie die einst für unübersteigbar gehaltenen Hindernisse im Austausch der Seelen uns nichtig erschienen gegenüber der Harmonie der Natur, wie sie unseren entzückten Blicken sich darbot? Ein Wort sagt alles: es fanden sich unsere Herzen auf Bergeshöh’n: so hab’ ich mir im Freien mein Weib voll Freiheit gefreit.“

(Fortsetzung folgt.)      
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_559.jpg&oldid=- (Version vom 26.3.2019)