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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

mit aller Entschiedenheit die ihm zukommende Stellung in Anspruch nahm, und bisweilen sah es aus, als nehme er die Vorstellung der gesammten Gesellschaft entgegen.

Unter den Gästen befand sich auch der Oberregierungsrath von Ernsthausen, ein vornehmer, steifer Bureaukrat, der heute ohne seine Gemahlin erschienen war, aber dafür sein Töchterlein am Arme führte. Die kleine Baroneß sah reizend aus in dem luftigen, rosigen Ballanzuge mit dem Kranz von Schneeglöckchen in den krausen schwarzen Locken, und sie strahlte förmlich vor Freude und Triumph darüber, daß sie nach heißen Kämpfen den Besuch des Festes doch durchgesetzt hatte. Die Eltern hatten sie anfangs davon ausschließen wollen, weil auch Doktor Gersdorf eingeladen war und sie erneute Annäherungsversuche von dieser Seite fürchteten. Jedenfalls war der Herr Papa gewappnet und gerüstet gegen die feindliche Macht; er ging wie eine Schutzwache neben seiner Tochter her und hielt ihren Arm so fest, als wolle er ihn während des ganzen Abends nicht wieder loslassen.

Der Doktor schien aber nicht gesonnen, sich einer erneuten Zurückweisung auszusetzen, und begnügte sich mit einem artigen Gruße aus der Ferne, den Baron Ernsthausen sehr steif erwiderte. Wally neigte das Köpfchen so ernsthaft und verständig, als sei sie ganz einverstanden mit der väterlichen Eskorte; natürlich hatte sie ihren Feldzugsplan längst entworfen und machte sich sofort an die Ausführung, mit einer Energie, die nichts zu wünschen übrig ließ.

Sie umarmte und beglückwünschte zunächst die Braut, wobei sie nothgedrungen den Arm des Vaters loslassen mußte, begrüßte dann Frau von Lasberg mit größter Liebenswürdigkeit, was die alte Dame ziemlich kühl aufnahm, und ward endlich von einer überströmenden Zärtlichkeit für Erna ergriffen, die sie denn auch glücklich bei Seite zog. Der Oberregierungsrath blickte ihnen etwas argwöhnisch nach; da aber Gersdorf ruhig am anderen Ende des Saales blieb, so beruhigte auch er sich wieder und glaubte seines Hüteramtes trefflich zu walten, wenn er den Feind unausgesetzt im Auge behielt. Er ahnte nicht, welcher arglistige Streich hinter seinem Rücken geplant und ausgeführt wurde.

Das Geflüster in der Fensternische dauerte nicht lange, dann verschwand Fräulein von Thurgau plötzlich aus dem Saale, während Wally ganz unbefangen zu dem Vater zurückkehrte und sich mit einigen Bekannten in eine angelegentliche Unterhaltung vertiefte. Sie sah es aber trotzdem recht gut, daß Erna nach Verlauf von einigen Minuten zurückkehrte, sich dem Doktor Gersdorf näherte und ihm einige leise Worte sagte. Er sah etwas überrascht auf, verneigte sich aber zustimmend und die kleine Baroneß breitete triumphirend ihren Fächer aus. Die Aktion war eingeleitet und der Herr Papa matt gesetzt für den größten Theil des Abends.

Der Präsident vermißte inzwischen seine Nichte und sah sich ungeduldig nach ihr um. Er sprach mit einem Herrn, der soeben erst in den Saal getreten war und jedenfalls nicht zu den gewöhnlichen Gästen des Hauses gehörte. Derselbe mußte aber wohl besondere Rücksichten beanspruchen können, denn Nordheim empfing und behandelte ihn mit einer Auszeichnung, die er nur sehr wenigen Persönlichkeiten zu theil werden ließ. Erna war kaum wieder sichtbar geworden und in seine Nähe gekommen, als er mit seinem Begleiter aus sie zutrat und diesen vorstellte.

„Herr Ernst Waltenberg, dessen Namen ich Dir bereits genannt habe – meine Nichte, Fräulein von Thurgau.“

„Ich hatte das Unglück, die Damen bei meinem gestrigen Besuche zu verfehlen, und bin daher dem gnädigen Fräulein noch ganz fremd,“ sagte Waltenberg, sich artig verneigend.

„Nicht doch, ich habe bei Tische viel von Ihnen erzählt,“ fiel Nordheim rasch ein. „Ein Weltfahrer wie Sie, der schon die ganze Erde umkreist hat und direkt aus Persien kommt, ist immer eine interessante Persönlichkeit für die Damen und in meiner Nichte kann ich Ihnen noch eine besonders aufmerksame Zuhörerin versprechen, wenn Sie von Ihren Erlebnissen erzählen. Das Seltsame und Ungewöhnliche ist ganz ihr Geschmack.“

„In der That, gnädiges Fräulein?“ fragte Waltenberg, dessen Augen mit unverhohlener Bewunderung an den Zügen des schönen Mädchens hingen. Nordheim bemerkte das und lächelte; ohne seiner Nichte Zeit zu einer Antwort zu lassen, fuhr er fort:

„Verlassen Sie sich darauf. Aber wir müssen vor allen Dingen versuchen, Sie wieder etwas heimischer in Europa zu machen, dem Sie gänzlich fremd geworden sind. Es wird mich freuen, wenn mein Haus etwas dazu beitragen kann; Sie wissen ja, daß es Ihnen immer offen steht.“

Er reichte seinem Gaste in der zuvorkommendsten Weise die Hand und trat dann zurück. Es lag eine gewisse Absichtlichkeit in der Art, wie er die beiden einander näherte und sie sich dann selbst überließ; aber Erna bemerkte das nicht. Sie hatte die Vorstellung gleichgültig hingenommen; überseeische Fremde waren keine Seltenheit im Nordheimschen Hause, welches überall Verbindungen hatte; doch der flüchtige Blick, mit dem sie den Gast musterte, blieb gefesselt haften an diesen eigenartigen Zügen.

Ernst Waltenberg war kein junger Mann mehr, er stand im Anfange der Vierzig und seiner nicht allzugroßen, aber sehnigen Gestalt sah man es an, daß er Anstrengungen und Gefahren gewachsen war. Das dunkle Antlitz mit seiner tiefbraunen Färbung verrieth den jahrelangen Aufenthalt in den Tropenländern; es war durchaus nicht schön, aber um so ausdrucksvoller und zeigte jene tiefen Linien, welche nicht die Jahre, sondern die Erfahrungen den Menschengesichtern einzuprägen pflegen. Das krause tiefschwarze Haar umgab eine breite Stirn mit dichten schwarzen Brauen, die stahlgrauen Augen hatten einen düsteren Blick und doch schienen sie aufflammen zu können in voller Leidenschaft: das sah man an ihrem gelegentlichen Aufblitzen. In der ganzen Erscheinung lag etwas Ungewöhnliches, Fremdartiges, das sich scharf und bedeutsam unterschied von all den glänzenden, aber meist sehr uninteressanten Gestalten, die hier durch die Säle flutheten. Auch die Stimme hatte einen eigenthümlichen Tonfall; sie klang tief, aber gleichfalls fremdartig, vielleicht infolge der langen Gewöhnung an andere Sprachen. Jedenfalls war Waltenberg vollkommen vertraut mit den gesellschaftlichen Formen; die Art, wie er neben Fräulein von Thurgau Platz nahm und die Unterhaltung führte, verrieth den Weltmann.

„Sie kommen aus Persien zurück?“ fragte Erna, an die Worte ihres Onkels anknüpfend.

„Ja, gnädiges Fräulein, dort war ich zuletzt wenigstens. Es sind mehr als zehn Jahre, daß ich den europäischen Boden nicht betreten habe.“

„Und doch sind Sie ein Deutscher? Vermutlich hielt Ihr Beruf Sie so lange fern?“

„Mein Beruf?“ wiederholte Waltenberg mit einem flüchtigen Lächeln. „Nein, ich folgte darin nur meiner eigenen Neigung. Ich gehöre nicht zu den seßhaften Naturen, die in Haus und Heimath festwurzeln; mich hat es von jeher hinausgezogen in die weite Welt und ich habe diesem Drange schrankenlos nachgegeben.“

„Und haben Sie in diesem ganzen Jahrzehnt niemals Heimweh empfunden?“

„Offen gestanden, nein! Man entwöhnt sich nachgerade von der Heimat und ihren Beziehungen und wird schließlich fremd darin. Ich bin auch jetzt nur zurückgekommen, um geschäftliche und persönliche Angelegenheiten zu ordnen, und glaube kaum, daß mein Aufenthalt von langer Dauer sein wird. Mich fesselt so auch hier keine Familie, ich stehe allein.“

„Aber das Vaterland selbst sollte Sie doch fesseln,“ warf Erna ein.

„Vielleicht, aber ich bin bescheiden genug, zu glauben, daß es mich nicht braucht. Es sind so viele Bessere da.“

„Und Sie brauchen Ihr Vaterland gleichfalls nicht?“

Die Bemerkung war etwas ungewöhnlich für eine junge Dame und Waltenberg sah in der That überrascht auf; aber der Blick, der dem seinigen begegnete, verschärfte noch den Tadel, der in jenen Worten lag.

„Sie sind darüber entrüstet, mein Fräulein, ich sehe es,“ sagte er ernster. „Trotzdem muß ich mich schuldig bekennen. Aber glauben Sie mir, ein Leben, wie ich es jahrelang geführt habe, frei von allen Schranken und Fesseln, inmitten einer Natur, die in verschwenderischer Fülle prangt, wo die unserige mit jeder Blüthe kargt, das wirkt wie ein berauschender Zaubertrank. Wer einmal davon gekostet hat, der kann ihn nicht wieder entbehren. Wenn ich wirklich dauernd zurückkehren müßte in dies Schein- und Formenwesen der sogenannten Gesellschaft, unter diesen grauen winterlichen Himmel, ich glaube – doch das sind ketzerische Ansichten in den Augen einer gefeierten jungen Dame, die im Mittelpunkte dieser Gesellschaft steht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_486.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)