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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

seiner Nachfolger denken, so müssen wir zugeben, daß nunmehr auch die Deutschen für den Hypnotismus sich eignen. Ja, wer die Tageslitteratur und die Fachzeitschriften nach dieser Richtung hin prüft, der wird finden , daß wir trotz unserer geringeren Veranlagung zum Hypnotismus an Auswüchsen desselben zu leiden haben, beinahe ebenso wie die leichter empfänglichen Nachbarn jenseit der Vogesen. Selbst die Behörden mußten gegen den hypnotischen Unfug bei uns einschreiten, und auch die volksthümliche Presse hat die Pflicht, weitere Volkskreise auf die Gefahren des Hypnotismus aufmerksam zu machen. Gleichzeitig darf man die überraschenden Thatsachen, welche eine durchaus vorurtheilsfreie Forschung zu Tage gefördert hat, nicht einfach leugnen. Man muß sozusagen streng zwischen wissenschaftlicher Forschung auf diesem Gebiete der Nervenerscheinungen und einer laienhaften Experimentirsucht unterscheiden. Von der ersten können wir neue Aufschlüsse über ein noch sehr dunkles Gebiet erwarten; letztere kann nur Verwirrung bringen und Schaden stiften.

Was ist nun Hypnotismus? wird zunächst der Laie fragen und eine genaue Definition desselben haben wollen. Leider ist es dem größten Gelehrten nicht möglich, nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft diesen Wunsch zu erfüllen. Wir können nur sagen, daß der Hypnotisirte sich in einem eigenartigen Zustand befindet, der dem gewöhnlichen Schlaf in mancher Beziehung nicht unähnlich, in vieler Hinsicht aber von diesem durchaus verschieden ist und darum wohl in früheren Zeiten „magnetischer Schlaf“ genannt wurde.

Am leichtesten können wir durch Anführen einiger Beispiele dem Laien einen Begriff von dem Wesen des Hypnotismus ermöglichen.

Früher glaubte man, daß nur einige wenige Menschen die besondere Eigenschaft hätten, bei andern den hypnotischen Zustand hervorzurufen, nannte sie „Magnetiseure“ und behauptete, sie besäßen ein besonderes „magnetisches Fluidum“. Jetzt wissen wir, daß jedermann, der die nötigen Vorkenntnisse sich erworben hat, andere hypnotisiren kann, und daß es eine ganze Reihe von Mitteln giebt, durch welche dieses Ziel erreicht wird.

Der bekannte Magnetiseur Abbé Faria, der zu Anfang dieses Jahrhunderts in Frankreich wirkte, pflegte seine Patienten zu überraschen, indem er ihnen plötzlich die Hände entgegenstreckte und befehlend rief. „Schlafe!“ Es gelang ihm, auf diese Weise viele zu hypnotisiren. Braid ließ die Patienten einen glänzenden Gegenstand (Glasknopf etc.) fixieren, und diese zuverlässigere Methode wird heute noch am häufigsten angewandt. Heidenhain versetzte seine Studenten dadurch in Schlaf, daß er sie mit geschlossenen Augen auf das Ticken einer Taschenuhr horchen ließ. Andere wieder wenden die sogenannten „Passes“ an, Striche, bei welchen die Handflächen in der Nähe des Körpers langsam und immer in der gleichen Richtung bewegt werden. Es sind dies alles Methoden, bei welchen länger andauernde, gleichmäßige Sinnesreize die Hauptsache bilden.

Früher glaubte man auch, daß nur ein geringer Bruchtheil der Menschen (namentlich Nervenschwache und Nervenkranke) hypnotisirt werden könne. Je mehr aber die Wissenschaft fortschritt, desto größer wurde jener Bruchtheil, und heute nehmen einige der Gelehrten an, daß wohl alle Menschen hypnotisirt werden können, sobald man die für jeden am besten geeignete Methode zur Anwendung bringe. Endlich kann man sich selbst, ohne Zuthun einer zweiten Person, in den Zustand der Hypnose versetzen, was schon Braid an sich selbst bewies.

Welches sind nun die Erscheinungen des magnetischen Schlafes oder der Hypnose? Auch auf diese Frage läßt sich keine eng begrenzte Antwort geben; denn die Erscheinungen sind so mannigfaltig, wechseln so stark je nach dem Grade des Schlafes und der Individualität des Hypnotisirten, daß es der Wissenschaft bis jetzt nicht gelungen ist, sie in ein unanfechtbares System zu ordnen. Je nach der Tiefe des Schlafes unterscheidet Charcot z. B. drei und Liégeois sechs Stufenleitern der Hypnose. In dieser Abhandlung, welche für Laien bestimmt ist, glauben wir, von einem näheren Eingehen auf den kataleptischen, lethargischen oder somnambulen Zustand absehen zu dürfen. Wie groß die Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen sein können, mag nur an einem Beispiel erläutert werden.

In der vollständigen Hypnose wird das Gefühl derart abgestumpft, daß der Hypnotisirte keine Schmerzen empfindet; man hat darum den Hypnotismus als Ersatz für das Chloroform anempfohlen, und in der That sind mit dessen Hilfe von vielen Aerzten zahlreiche schwere Operationen ganz schmerzlos ausgeführt worden. Bei leichteren Graden des hypnotischen Schlafes treten dagegen ganz entgegengesetzte Erscheinungen auf.

Das Gefühl ist in solchen Fällen nicht abgestumpft, im Gegentheil, es ist eine sehr auffällige Verfeinerung aller Sinne nachzuweisen. Die Hautnerven werden empfindlicher; der Gesichtssinn verschärft; in vielen Fällen konnten von den Hypnotisirten Worte und ganze Zeilen bei einer so schwachen Beleuchtung noch deutlich gelesen werden, daß weder dieselbe Person im wachen Zustande, noch die andern Anwesenden nur einen Buchstaben zu entziffern vermochten.[1] Auch der Geruchssinn erlangt eine eigenthümliche Schärfe, so daß Hypnotisirte die Eigenthümer der ihnen vorgehaltenen Gegenstände allein durch den Geruch zu finden in der Lage waren.

Die interessantesten und zugleich wichtigsten Erscheinungen, welche während der Hypnose überhaupt beobachtet worden, sind jedoch diejenigen, welche sich aus dem psychischen Gebiete vollziehen: die hochgradige Willensschwäche, welche bis zum gänzlichen Aufgeben des eigenen Willens gesteigert werden kann, die Beeinflussung des Gedächtnisses und die Suggestion.

Das Gedächtniß kann im hypnotischen Somnambulismus ungemein gesteigert werden. Schon in Braids Schriften ist von einer ehemaligen Haushälterin eines hebräischen Geistlichen die Rede, welche im hypnotischen Zustand ganze hebräische Predigten hersagte. Der Geistliche hatte die Gewohnheit, seine Predigten laut auswendig zu lernen, und die Laute hatten sich dem Gedächtniß der Haushälterin eingeprägt. Merkwürdig war es dabei, daß die Haushälterin sich im wachen Zustande keines Wortes der Predigten erinnerte und erst in der Hypnose die klarste Erinnerung des früher Gehörten zeigte.

Aus jüngster Zeit stammt der Versuch von Richet. Er hypnotisirte eine Dame und recitirte ihr einige Verse, von denen sie beim Erwachen nichts mehr wußte. Abermals eingeschläfert, sagte sie dieselben vollkommen richtig auf und hatte sie, erweckt, abermals vergessen. Bottey erzählt, daß ein junger Mensch im hypnotischen Zustande einen ganzen Text, den man ihm diktirt, von einem leeren Blatte richtig ablas, nachdem man ihm die beschriebenen Blätter weggenommen hatte.

Das Gedächtniß kann aber bei ähnlichen Versuchen auch völlig schwinden, namentlich wenn dem Hypnotisirten suggerirt wird, er soll alles das, was er in der Hypnose erlebt hat, vergessen.

Das Wort „suggeriren“ bedeutet so viel als jemand etwas einreden, ihn beeinflussen, daß er etwas thut, und für die Suggestion sind die Hypnotisirten besonders empfänglich.

„Bekanntlich,“ schreibt Professor Dr. H. Obersteiner,[2] „lassen sich willensschwache Menschen durch jedermann beeinflussen; man kann sie leicht dahin bringen, daß sie von Stunde zu Stunde ihre Anschauung wechseln. Wenn nun, wie wir gesehen haben, beim Hypnotisirten der eigene Wille auf ein Minimum reducirt ist, so muß es uns von vornherein begreiflich erscheinen, daß derselbe im höchsten Grade für Suggestionen empfänglich ist.“

In den hypnotischen Schaustellungen, die öffentlich veranstaltet wurden, bildeten die Suggestionserscheinungen die Glanzpunkte des Programms. Da verzehrten die Hypnotisirten rohe Kartoffeln, in der Meinung , es seien Aepfel, tranken ein Glas Wasser, das ihnen als Branntwein gereicht wurde, und taumelten darauf wie Betrunkene; hielten eine Flasche für eine Trompete und bliesen darauf; tanzten mit alten Herren in der Meinung, sie hätten junge Damen vor sich, etc.

Man kann der hypnotisirten Person einreden, daß sie anders heiße, jemand anders sei. So brachte Richet eine dreiundvierzigjährige Dame dahin, sich nach einander für eine Bäuerin, eine Schauspielerin, einen General, einen Prediger, eine Nonne, ein kleines Kind, einen jungen Mann etc. zu halten, und die Hypnotisirte gab sich alle erdenkliche Mühe, sich so zu gebärden, wie es die Rolle erheischte. Als kleines Mädchen will sie ihre Puppe und Süßigkeiten; als General verlangt sie Roß und Degen, kommandirt, beklagt sich über schlechtes Manövriren; als Schauspielerin erzählt sie ihre Erlebnisse etc.

Die Suggestion kann sich auch über die Zeit des hypnotischen Schlafes hinaus erstrecken. Man hat Beispiele, daß, wenn der

  1. Vergl. auch den Artikel „Der Gesichtssinn eines Hypnotisirten“, Jahrg. 1888, S. 35.
  2. „Der Hypnotismus mit besonderer Berücksichtigung seiner klinischen und forensischen Bedeutung“. Wien, 1887.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_459.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)