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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

mit einer kühlen Gelassenheit die bunten Gruppen an den Tischen. Er trank dabei – vom Morgen an gerechnet – bereits den dritten verbotenen fetten Kaffee, aß dazu schon das zwölfte verbotene fette Gebäck und rauchte die sechste verbotene Virginiacigarre. Aber er machte sich nichts daraus; denn die Damen in der Runde waren bei derselben Zahl von Kaffees und Kaffeebroten angelangt. Und dabei hatten sie alle so schmerzlich zurechtgelegte Züge, obzwar sie innerlich recht ruhig waren; aber es macht sich gut so und gehört mit zur Kur, angegriffen auszusehen. Nach acht Tagen ertappte sich Florian selbst auf derartigen Anwandlungen und nach vierzehn Tagen glaubte er aufrichtig an ein empfindliches Angegriffensein. Von dieser Zeit her rührte eine neue Beschäftigung, welche ihn täglich ernst in Anspruch nahm.

Man stößt da an dem Berghange längs des Teplflusses auf Aufschriften, welche vor mehreren Jahren noch lauteten. „Hier kann man sich wiegen lassen.“ – Der fortschreitenden Kultur und Sprachwissenschaft entsprechend ist jenes „wiegen“ seither in „wägen“ umgemalt worden. Auch die ehedem schlicht und ohne Dach hingepflanzte Dezimalwage von jener rohen kleinen Gestalt, wie man sie bei Dorfkrämern findet, ist einem verwickelten Apparat von ehrfurchtgebietender Größe gewichen. Derselbe prangt jetzt unter einem Dächlein oder in einem feierlich dämmernden, mit Tapeten überzogenen Holzverschlage neben Stühlen, einem Lehnstuhl oder gar einem Sofa. Daselbst überzeugen sich die Kurgäste handgreiflich an Gewichtsstücken, ob das Karlsbader Wasser bereits Wunder gewirkt und ob die Fettschichte über ihren Gedanken und Gefühlen schon merklich abgenommen habe. Es ist ein gediegener und lehrreicher Zeitvertreib für alle gelangweilten dicken Fremden. Aber der ernste Mann, an welchen Florian zufällig dabei gerathen war, sah es durchaus nicht als solchen an, er nahm die Sache nicht so leicht wie seine Konkurrenten, bei denen man an eine Art Nichtsthun mit verschämter Bettelei dachte, das jeder sofort auszuüben im Stande ist wie das Drehorgelgeschäft. Er dagegen bekundete bei seinem Wägeverfahren etwas tief Gründliches, Wissenschaftliches; das war eine gewissenhafte Untersuchung, wie wenn ein berühmter Arzt an ein Krankenbett tritt. Es begann langsam mit einem feierlichen Aufsetzen der Augengläser und endete mit dem ernst und nachdrucksvoll ausgesprochenen Urtheile: „Hundertzehn Kilo und fünf Deka!“ Bei diesem Ausspruch hatte er auch ganz die Haltung und Miene eines berühmten Diagnostikers, der endgültig über Tod und Leben aburtheilt. Es klang wie eine höhere Offenbarung, war unumstößlich und bis auf ein Dekagramm untrüglich. Ganz so wie manche große Diagnostiker verhehlte und schmeichelte er dabei niemals, sondern sagte dem dicksten Banquier seine Fettziffer mit Marmorruhe ins bleiche Antlitz. Daraus erhielt der Gerichtete einen Zettel in seiner Muttersprache, in dessen gedrucktes Formular der Beherrscher der Wage Datum und Gewicht mit schönen Ziffern niederschrieb. Auf den ersten Blick hatte er es weg, welchem Volksstamm sein Patient angehöre, und mit zauberhafter Raschheit war das Dezimalgewicht seiner Wage in russisches oder norwegisches altes Gewicht umgewandelt. Jedermann bekam auf dem Zettel sein Fett in seinem Landesmaße zugemessen, nachdem der Zettel und der erbetene Name in ein großes Hauptbuch eingetragen worden waren. Der Zettel konnte verloren gehen, die Ziffer vergessen werden – dann wäre der Verlust ohne das Hauptbuch unersetzlich gewesen. Der Mann hütete darum auch dies Buch wie seinen Augapfel. Es waren ungeheure Massen Menschenfett darin aufgespeichert, und manche Nachfrage in späteren Jahren, mancher interessante Briefwechsel knüpfte sich daran, welcher sein Selbstgefühl noch erhöhte.

Florian, von dem tiefen Ernst der Sache ergriffen, von den blinkenden Augengläsern des Mannes und von dem großen Bleistift hinter dem Ohre verschüchtert, legte jedesmal vor dem Wägen alles ab, was das strenge Urtheil der Wage irgendwie beeinflussen konnte: Uhr sammt schwerer Goldkette und Georgsthaler, Geldtasche, Schlüssel, Taschenmesser und die großen goldenen Manschettenknöpfe. Täglich trat er vor diesen Richterstuhl, täglich brachte er dasselbe Urtheil heim: die Wägezettel wiesen wie die Guldenzettel, welche er für sie hingab, immer ein und dieselbe Ziffer.

In gleicher Weise erging es Jakobäa: bei Florian keine Abnahme, bei ihr keine Zunahme. Aber da stand auf dem Wege unter dem Hirschensprung eine junge Eiche mit üppig grünendem Wipfel. Die hatte einst auf dem Gestein Fuß gefaßt und hatte sich nach und nach mit zäher Kraft und Ausdauer den ganzen Felsen angeeignet. Er war jetzt ein Theil von ihr geworden: die Hauptwurzeln faßten ihn wie eiserne Klammern, die Nebenwurzeln umstrickten ihn von allen Seiten; die feinen Ausläufer krochen in die engste Ritze, schmiegten sich an jede Erhöhung, umgarnten alle Kanten. Wer den ganzen Baum haben wollte, mußte den Felsen sprengen. Daneben war in die Felswand die Gedenktafel eines armen Kranken eingemauert, darauf die vielen Jahre einzeln verzeichnet standen, in denen er nach einander die Kur in Karlsbad gebraucht hatte. Die Inschrift unten galt sowohl der Eiche, die den Fels überwunden hatte, als auch ihm selbst: Beharrlichkeit führt zum Sieg. Dies Sprüchlein sagte sich Jakobäa täglich vor, wenn sie von der Wage stieg.

Dagegen gab es an anderen Orten so manche andere Sprüchlein zu lesen von Beharrlichkeit, Geduld und Hoffnung; aber sie glichen jenem des Doktors von dem „stattlicher werden“: es stak nichts dahinter, oder wenn etwas dahinter lag, war es nur traurig. Der Teplfluß bildet unmittelbar am Ende der alten Wiese eine scharfe Krümmung, wo den Bergen noch der Raum für das „Hôtel de Saxe“ und für das „Hôtel Pupp“ mit seinen Anlagen abgewonnen ist. Gleich darauf tritt der Fuß der Waldhöhe wieder so dicht gegen das linke Ufer heran, daß man ihr nur noch einen Weg für Spaziergänger gewaltsam abringen konnte. An der Felswand, welche dabei in den herandrängenden Berg gehauen worden ist, sind Tafeln und Aufschriften angebracht, darauf zu lesen steht, weshalb, wann, wie oft, mit welchem Erfolg der Stifter die Karlsbader Kur gebraucht hat. Fräulein Nina widmete sich mit großem Vergnügen dem Entziffern dieser Tafeln; das waren nach ihrer Ansicht doch einmal Menschen, die nicht erst auf einen Possendichter, wie es der von ihr vergötterte Nestroy war, warteten, sondern sich lieber gleich selbst mit ihrer Schwäche an den Pranger stellten. Es erschien ihr höchst komisch, wie sie dabei doch selbst das Lächerliche ihres Unternehmens einsahen, wenn sie so der zügellosen Leidenschaft fröhnten, ihre Namen zu verewigen sammt ihren körperlichen Gebrechen; denn jedesmal ward diese nackte und zugleich häßliche Eitelkeit keusch mit dem Vorwande umschleiert, die Heilkraft der Quellen zu verherrlichen, der hilfereichen Quellennymphe zu danken. Jakobäas Auge überflog hingegen diese Wand immer mit einem tiefen Ernste, und trotz aller Erinnerungen an Nestroy und seine Witze, die Fräulein Nina unerschöpflich daran knüpfte, konnte sie nie darüber lächeln. Es waren uralte Gedenktafeln darunter, verwischt und halb zerbröckelt, deren Urheber längst vermodert waren. Und Jakobäa dachte, wie seit Jahrhunderten die Menschen, welche hier gewandelt waren, immer andere gewesen, das Leiden jedoch, unberührt vom Wechsel der Menschen und Zeiten, unverändert einherziehe – damals in denen, die seither gestorben, wie heute in allen, die da lebend neben, vor, hinter ihr dahinschritten.

Solche Gedanken vereinigten sich mit ihrer trübseligen Grübelei über ihr eigenes Mißgeschick und tauchten dann wieder hinab, um die Schwermut ihrer Seele noch mehr zu vertiefen. Dann trieb sie wohl eine verzweifelte Stimmung fort aus dem drängenden Menschengewühle in den dichtesten Wald. Da breiteten sich die mächtigen Buchen, mit gewaltigen Wurzeln – und sie stand daneben so schwach und dünn. Dort wieder schossen die leichten schlanken Tannen hoch, immer höher dem Himmel zu – und sie stand so klein, so niedrig unter ihnen in der Waldestiefe. Sie ließ sich auf eine Bank nieder und blickte empor zu den dichten Laubkronen, wo in jedem kleinsten Blättchen die belebenden Kräfte gestaltend und vergrößernd wirkten.

Und eben dieselben Kräfte – sann Jakobäa – waren es, die auch in ihr thätig waren oder doch thätig sein sollten; jedoch von ihrem Walten sah man nichts, gar nichts. Es war, als täten sie es an und in ihr nur so im Schlafe, lässig eben nur das erhaltend, was da war und wie es war, aber nichts dazu schaffend, nichts vergrößernd, erhöhend, erweiternd. Eine stumme schmerzliche Frage stand in dem Blick, mit welchem sie den Baum anstarrte. Die goldenen Strahlen in seiner Krone waren inzwischen zu einem mattgoldenen Nebel zerflossen, und diesen durchglühte jetzt der Purpur des späten Abends – aber in Jakobäa dämmerte schon längst nächtliches Dunkel, und mitten darin knirschte der eiserne Wille an eiserner Kette.

Dann war die Karlsbader Kurzeit um und man zog heimwärts.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_290.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)