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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

durch jene Stimme angefüllt, und ihr Ton durchfluthete die ganze Weite zugleich mit den hereinspielenden Abendlichtern.

Sie stand da, schmal und dünn wie die Heiligen, welche zwischen zwei Säulchen einer gothischen Münsterverzierung eingeengt sind, und dabei doch wieder so klein und verschrumpft, daß sie eher unter den gedrückten Rundbogen der altromanischen Basilika taugte. Und auch sonst zeigte sich an ihr eine Vermischung zweier Stile, etwas Ungleichmäßiges, Unfertiges, Unzusammenhängendes. Die Glieder waren zierlich gedrechselt, das Gesichtchen ein feines Kinderoval, nicht schön, aber ausdrucksvoll; die Wucht der Haare dagegen und die Wucht des Blickes gehörten ganz einer erwachsenen, ja einer sehr großen Person an. Es waren röthliche Haare mit einem metallischen Schimmer wie Gold; ein Metallschimmer brach auch aus den grauen Augen hervor, seit sie dort oben stand und vortrug, während er früher nicht sichtbar gewesen war – man mußte dabei an Stahl denken. Und die Wucht einer erwachsenen, einer mächtigen Persönlichkeit lag in diesem Organ, in diesem Vortrage – es war die Gewalt eines großen Wassers, das widerstandslos alles mit sich fortreißt, mag es jetzt in breitem großen Fließen langsam einherziehen oder dann plötzlich in Stromschnellen niederrasen.

Die Richter sahen nicht mehr einander an, sondern nur sie, und wenn sie nicht selbst abgebrochen hätte, keiner von ihnen würde sie aufgehalten haben. Dann standen sie auf – keiner sprach.

„Ein Phänomen!“ murmelte endlich der Gutmüthige.

Als die Anderen zustimmten, fuhr er fort. „Unter allen, die wir heute und gestern aufgenommen haben, ist keine solche geniale Begabung aufgetaucht.“ – Es war die volle Wahrheit, alle mußten es zugeben.

„Das ist in der That traurig, sehr traurig!“ sagte er kopfschüttelnd und tief verstimmt. „Von einer Aufnahme kann natürlich jetzt keine Rede mehr sein.“

„Das ist so der reine … das ist aber doch eine ganz … wunderliche Schlußfolgerung!“ fuhr der Heftige auf und warf seinen Zwicker wild in die Luft hinaus. „Sie muß unbedingt aufgenommen werden!“

Die Anderen nickten dem Heftigen eifrig zu, sie waren empört! Er – der Gutmüthige! Es war ganz unfaßbar. Aber sie beruhigten sich schließlich: seine Stimme war eben nur eine Stimme, sie standen alle gegen ihn.

Er sah wehmüthig vor sich hin, dann sagte er.

„Ich war für einen Vortrag, weil ich ein kindliches Organ und eine kindische Auffassung sicher voraussetzte. Sie sollte aus unseren Urtheilen die gänzliche Hoffnungslosigkeit ihres Vorhabens so unzweifelhaft ersehen, daß sie fortan ihr Sinnen und Streben anderen Dingen zuwende und sich entschieden von etwas abwende, was bei ihrer Größe doch nur eine Thorheit ist. So aber … nun, Sie sind anderer Meinung, meine verehrten Freunde und Kollegen! Sie finden, daß ich unbarmherzig bin, weil ich den Dolch mit einem Stoß geradezu in das Herz bohren will. Sie dagegen wollen jenes zarte Figürchen aufnehmen, zwei Jahre lang ausbilden, und … und dann? Was dann? – In Mailand hat einst ein Mann eine ganz merkwürdige Erfindung gemacht, wie man nämlich einen zum Tode Verurtheilten stückweise nach einander verstümmeln könne, so daß er genau am vierzigsten Tage erst stirbt. Diese vierzigtägige Marter, die Quaresima genannt, begann damit, daß man dem Verurtheilten ein Auge ausriß, worauf man ihn einen Tag in Ruhe ließ; dann kam das andere Auge an die Reihe und abermals eine Pause von einem Tage. Das ging so fort, abwechselnd ein Glied und ein Ruhetag, bis am vierzigsten Tage die Verstümmelung gerade bis zu dem Herzen reichte und der Tod eintrat. Ganz so gedenken Sie zu verfahren – Sie brauchen über diese Gleichstellung nicht zu erschrecken: der jene Quaresima erfand und an seinen Opfern anwandte, war kein Barbar, sondern ein mächtiger Fürst, Galeazzo Visconti, der Herrscher von Mailand, dessen Nichten die Frauen deutscher und italischer Herrscher wurden, und eine derselben heiratete den Herzog Rudolf den Vierten von Oesterreich – sollte etwa durch diese Nichte die Quaresima auf den Wiener Boden verpflanzt worden sein und sich etwa hier im Konservatorium … doch ich betone nochmals, Galeazzo Visconti war ein frommer Christ, fastete, vertheilte Almosen, schwärmte für Kunst und Wissenschaft – ganz wie Sie, meine verehrten Freunde und Kollegen.“

Mit bekümmerter Miene setzte er sich nieder, tief aufathmend und aufseufzend.

Man schritt zur Abstimmung. Das Resultat lautete: „Fräulein Jakobäa Almer ist in die Schule für darstellende Kunst am Konservatorium aufgenommen mit allen gegen eine Stimme.“

Die eine Stimme war die des Gutmütigen.

Damit war das nächste höchste Ziel erklommen; aber sehr angenehm war es auf dieser Höhe durchaus nicht für sie. Es werden in der Schauspielschule jahraus jahrein Proben aufgeführt zu dem künftigen Intriguenstück „der Künstlerneid“. Beneidet im engsten Sinne wurde zwar Fräulein Almer nicht: sie erschien in ihrem Aeußeren für die Bühne unmöglich und darum unschädlich, so daß man sie eben nur belächelte und verspottete, sowohl ins Gesicht als auch hinter dem Rücken. Sie besaß jedoch eine geniale Begabung, und deshalb wurde sie von ganzem Herzen gehaßt, ganz wie der schwächliche Reiche von einem starken Armen gehaßt wird, der im Bewußtsein und Vollgefühl seiner physischen Kraft vermeint, mit dem Reichthum, welchen jener nicht genießen kann, alle Freuden und Wonnen der Welt erschöpfen zu können. Ueberdies entwickelte sie einen so rastlosen Fleiß, als ob sie nicht im mindesten begabt wäre. Sie verstand auch in der Schule alles, sie wußte alles, während die Anderen oft wenig verstanden und nichts wußten; darauf geberdete sich die verletzte Eitelkeit ungemein erfinderisch in allerlei Rachethaten und Rachereden. Zu solchen geflissentlichen Nadelstichen und Beilhieben kam dann noch das Unbeabsichtigte: man übersah sie auch, sah über sie hinweg, schob sie bei Seite, setzte sie hintan, weil man sie bei ihrer Kleinheit buchstäblich übersah.

Sie war ein fremdgeartetes kleines armes Huhn in einem großen Geflügelhofe voll herumstolzirender Pfauen, aufgeblasener Truthähne, hochstelziger Kalkuttahühner und zischender Gänse. Wie sachte es auch dahinschleicht, wie bange es auch ausweichen mag: rechts droht und links hackt schon ein bissiger Schnabel nach ihm. Treibt aber der Hunger das arme gescheuchte und wund gebissene Ding doch endlich dorthin, wo der Ueberfluß der Anderen ungenützt liegen geblieben ist, von dem es sich verstohlen ein Körnlein aufpicken möchte – da von allen Seiten ein wildes Zischen, Kollern, Gackern, und in gemeinsamem Ansturme stürzt alles auf dasselbe los.

Sie dagegen war freundlich gegen alle, fast unterwürfig; es war ein demüthiges Emporblicken, ein leises Auftreten, wie sich in einer stolzen reichen Familie die vom Gnadenbrot zehrende arme Verwandte geberdet.

Zu dem berühmten Eingang in das Burgtheater unter dem Burgthor eilte sie, wenn sie eine Freikarte erhalten hatte, früher als alle, da sie zu klein war, um auf der Galerie hinter den Anderen etwas sehen zu können. Kurz nach dem Mittagläuten kam sie mit einem Buch, stellte sich an die verschlossene Paradiesespforte und wartete sechs Stunden lang, indem sie während dieser Zeit einige Rollen lernte. Oft genug gelang es denen, die erst gegen Abend gekommen waren, auf der Stiege oder auf der Galerie das kleine Figürchen durch einige rohe Stöße schließlich zurückzudrängen, so daß jenes sechsstündige Warten unter allen Unbilden des Wetters ganz umsonst gewesen war. Behauptete sie aber einmal den Vordergrund der Galerie, dann sah man von unten ihre Augen herabbrennen: die Augen eines ekstatischen Kindes, das alles um sich her vergaß!

In der Schule während der Vorträge saß sie gedeckt durch die größeren Genossinnen, so daß ihr Kopf allein sichtbar blieb, weil er sich weit vorbeugte in jener Höhe, in welcher ihre Nachbarin erst die Hände hatte, es war, als säße jemand dort neben den Stühlen auf der Erde. Die grauen Augen waren unverwandt auf den Professor gerichtet. Sie merkte sich nie etwas an, sondern schrieb den ganzen Vortrag daheim nach, es fehlte nichts darin; selbst unwesentliche Bemerkungen und Nebensächliches fanden sich wieder. Aber das Prüfen des Lehrstoffes am Schlusse jedes Vierteljahres gestaltete sich qualvoll. Sie wußte alles, sie hatte alles begriffen und durchdacht, aber anstatt es nun schlicht auseinanderzusetzen, verfiel sie sofort in den Bühnenton; selbst bei der Darlegung nüchterner Thatsachen oder bei trockener Beweisführung brach unhemmbar das Pathos und die Wucht der Tragödie hervor.

Die Professoren gingen durchweg mit ihr behutsamer um als mit den Anderen. Sie warfen eben alle das Vollgewicht gerechten hilfreichen Wohlwollens auf ihre winzige Wagschale,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_270.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)