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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

lange Züge, in denen ein Lemming so dicht auf den anderen folgt, daß er mit seinem Kopfe auf dem Rücken des vorhergehenden zu ruhen scheint, und unter dem Getrippel der leichten Geschöpfe graben sich endlich tiefe, von Weitem sichtbare Pfädchen in den Moosteppich der Tundra. Je länger der Zug währt, um so mehr steigert sich die Eile der wandernden Lemminge. Gierig fallen sie über alle Pflanzen auf und am Wege her und verschlingen, was genießbar ist; ihrer Menge gegenüber verarmt aber auch ein noch unbeweidetes Gebiet binnen wenigen Stunden, und wenn die vordersten wirklich noch einige Nahrung finden, bleibt doch für die nachkommenden nichts mehr übrig; der Hunger mehrt sich von Minute zu Minute und beschleunigt gleichmäßig den Zug, läßt jegliches Hinderniß als überwindlich, jede Gefahr als nichtig erscheinen und treibt dadurch Millionen in den Tod. Ihnen entgegentretenden Menschen laufen sie zwischen den Beinen durch; Raben und anderen übermächtigen und räuberischen Vögeln bieten sie trotzig die Stirn, Heuschober durchnagen, Berge und Felsblöcke überklettern, Flüsse und Meeresarme, selbst breite Seen oder Meeresbuchten und Fjorde überschwimmen sie. Ein ähnliches Gefolge wie hinter den wandernden Eichhörnchen trabt und fliegt hinter ihnen einher: Wölfe und Füchse, Vielfraße, Marder und Wiesel, Hunde der Lappen und Samojeden, Adler, Bussarde und Schneeeulen, Kolkraben und Nebelkrähen nähren sich an den unzähligen Opfern, welche sie dem wogenden Heere mühelos entnehmen, Möven und allerlei Raubfische an denen, welche die Gewässer fordern, Seuchen und Krankheiten bleiben ebenso wenig aus und raffen vielleicht noch mehr von ihnen hin, als alle Feinde zusammen genommen vertilgen können. Tausende ihrer Leichen bleiben verfaulend am Wege liegen, Tausende treiben die Wellen mit sich fort, ob ihrer überhaupt übrig bleiben und ob diese später nach ihren wohnlichen Alphöhen zurückkehren oder ob schließlich alle, alle, welche auszogen, auf der Wanderung zu Grunde gehen, vermag niemand zu bestimmen.

Was im Norden der Hunger bewirkt, verursacht in dem reicheren Süden der quälende Durst. Wenn unter der sengenden Hitze des südafrikanischen Winters die brackigen Wassertümpel, welche bis dahin Tigerpferden, Antilopen, Büffeln, Straußen und anderen an den Boden geketteten Steppenthieren Labung gewährten, mehr und mehr versiegen, sammeln sich um diejenigen, welche noch nicht vertrockneten, alle Thiere, denen die Steppe bisher ihre Lebensbedingungen gewährte, und ein reges, überaus lebendiges Treiben entwickelt und gestaltet sich um die noch wasserhaltigen Lachen. Wenn aber auch sie verdunsten, sehen die Thiere, welche an ihnen zusammenströmten, sich gezwungen, auszuwandern, und dann kann es geschehen, daß sie von einer ähnlichen Verzweiflung erfaßt und beherrscht werden wie die vorher geschilderten Nager, in ähnlicher Weise wie Wildpferde und Kropfantilopen der mittelasiatischen Steppen oder die Bisonten der nordamerikanischen Prairien sich scharen und geraden Weges Hunderte von Meilen durchlaufen, um der Noth des Winters zu entrinnen.

Die ersten, welche dem ungastlich gewordenen Lande den Rücken kehren, sind auch hier die Wildpferde. Sorglos und ungezwungen streiften bis zum Eintritte der Noth die prachtvoll gezeichneten, kräftigen und schnellen, wilden und selbstbewußten Kinder der Karu, Zebra, Quagga und Dauw durch ihr weites Gebiet, jede einzelne Herde unter Obhut und Führung eines alten, erfahrenen und kampfgeübten Hengstes ihre eigenen Wege wählend. Da beginnen die Sorgen der Zeit des Winters. Eine Wasserlache nach der anderen schwindet und immer zahlreicher werden die Herden, welche sich um die bis zuletzt noch ergiebigen sammeln. Die gemeinsame Noth läßt selbst die rauflustigsten Hengste Kampf und Streit vergessen. Anstatt der wenig zahlreichen Tabunen bilden sich Herden von mehreren hundert Stück, welche fortan gemeinschaftlich handeln und endlich gemeinsam die winterliche Gegend verlassen, noch bevor deren Mangel die Kräfte geschwächt, den störrischen Willen gebrochen hat. Mit Begeisterung schildern Reisende das großartige Schauspiel, welches eine solche wandernde Tigerpferdherde gewährt. Weithin vor dem Auge des Beobachters erstreckt sich das sandige Gelände, dessen rothschimmernder Grundton nur hier und da durch dunkle Flecken sonnenverbrannten Grases unterbrochen, welches nur spärlich durch einzelne Bestände federblätteriger Mimosen beschattet und erst in weitester Ferne durch scharfe Linien in blauem Dufte schwimmender Berge begrenzt wird. Inmitten solcher Landschaft erhebt sich eine Staubwolke und steigt, von keinem Lufthauche gestört, wie eine Rauchsäule zum blauen Himmel auf. Näher und näher zieht diese Wolke heran; endlich werden in ihr sich bewegende lebende Wesen auf Augenblicke sichtbar. Vom Dunkel sich lösend, treten lebhaft gefärbte und seltsam gezeichnete Thiere vor das Auge des Beschauers, in dicht gedrängter Reihe, die Hälse und Schweife erhoben; Nacken an Nacken mit abenteuerlich gestalteten Gnus und Straußen, welche ihnen sich angeschlossen, sprengen sie vorüber, einem anderen, vielleicht weit entfernten Weideplatze zueilend, und ehe der Beobachter noch recht zur Besinnung gelangte, ist das wilde Heer wiederum dem Auge entrückt, in der unabsehbaren Steppe dem Blicke entschwunden.

Nicht immer auf denselben Pfaden, aber doch meist in gleicher Richtung ziehen auch die vom Winter vertriebenen Antilopen durch das weite Land. Keine von ihnen tritt zahlreicher und häufiger auf als der Springbock, eine der zierlichsten und schmucksten Gazellen, welche wir kennen. Seine ungewöhnliche Schönheit und zaubervolle Beweglichkeit bestrickt jeden, welcher ihn in der Freiheit beobachtet, wie er bald federnden Ganges dahinschreitet, bald stille stehend sich äs’t, bald in übermüthigen Sprüngen sich tummelt und dabei seine höchste Zierde, einen mähnenartigen, bei ruhigem Gange in einer Längsfalte des Hinterrückens verborgenen, schneeweißen Haarbusch entfaltet. Keine andere Antilope schart sich, wenn die Noth zum Wandern zwingt, zu so zahlreichen Heeren wie der Springbock. Vergeblich bemüht sich auch der wortreichste Beschreiber bei dem, welcher einen Springbockzug nicht mit eigenem Auge erschaute, eine annähernd richtige Vorstellung des wunderbaren Schauspiels hervorzurufen. Seit Wochen schon zusammen gedrängt, vielleicht noch immer des ersten Regengusses harrend, entschließt sich der Springbock endlich dennoch zum Wandern. Hunderte seiner Art vereinigen sich mit anderen Hunderten, Tausende mit Tausenden, je drohender der Mangel, je quälender der Durst wird, je mehr der bereits zurückgelegte Weg sich verlängert; aus den Scharen bilden sich Herden, aus den Herden Heere, und den die Sonne verdunkelnden Heuschreckenschwärmen vergleichbar, ziehen diese Heere dahin. In den Ebenen bedecken sie ganze Geviertmeilen, in den Pässen zwischen den Bergen drängen sie sich zu gepreßten Massen zusammen, denen kein anderes Geschöpf Widerstand zu leisten vermag, durch die Niederungen fluthen sie wie ein seine Ufer überschwemmender, alles mit sich dahin wälzender Strom. Sinnverwirrend, auch den nüchternsten Menschen berauschend und bethörend, wogt das Gewimmel vorüber, stunden-, zuweilen tagelang.

Wie die gefräßigen Wanderheuschrecken fallen die verschmachtenden Thiere über Gras und Blätter, Getreide und andere Feldfrüchte her; wo sie gezogen, bleibt kein Halm übrig. Der Mensch, welcher ihnen gegenüber tritt, wird im Nu zu Boden geworfen und durch die zwar leichten, aber in tausendfacher Folge wiederkehrenden Huftritte so schwer verletzt, daß er froh sein kann, wenn er mit dem Leben davonkommt; eine im Wege weidende Schafherde wird umzingelt, fortgerissen und auf Nimmerwiedersehen entführt, ein Löwe, welcher mühelos Beute zu erwerben gedachte, sieht sich gezwungen, das von ihm geschlagene Opfer zu verlassen und mit dem Strome zu treiben. Unablässig drängen die hintersten vorwärts, weichen die vordersten langsam zurück, beständig suchen die in der Mitte eingepferchten Scharen die Flügel zu erreichen, und fortdauernd begegnen sie dem zähesten Widerstande. Ueber der Staubwolke, welche die wandernden Massen erregen, kreisen die Geier; den Flügeln wie dem Nachtrabe des Heeres schließt sich ein zahlreiches, aus den verschiedensten Raubthieren gebildetes Leichengefolge an; an Pässen lauern Jäger und Schützen und entsenden Kugel auf Kugel in das Gewimmel. So schwärmen die gequälten Thiere durch viele Meilen, bis endlich der Frühling eintritt und ihre Herde auflöst.

Soll ich nach diesem noch anderer unfreiwilligen Wanderungen gedenken, solcher, wie sie Eisfüchse und Eisbären zuweilen auszuführen gezwungen werden, wenn eine Scholle, auf welcher sie jagten, gelöst und von den Meereswogen fortgerissen wird, bis sie im günstigsten Falle an einer Insel landet? Ich meine nicht, denn solches Reisen ist nicht Wandern mehr, sondern nur noch ein Treiben mit den Wellen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_228.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)