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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

nächsten Tag wieder ihre Arbeit verrichtet? Wir wollen hoffen, daß er sich nicht täuscht. Das Künstlervölkchen verwirklicht den Traum des Kosmopoliten. Geburtsland, Rasse, Religion, früherer Stand sind aufgehoben. Eine Kameraderie verbindet sie alle. Deutsch, englisch, holländisch, französisch, italienisch, russisch schwirrt es durch einander. Ein neues Idiom – von jeder Sprache etwas – ist

Gestürzt.

entstanden. Auch der mitarbeitende Japaner, Araber, Neger unterliegen dem Nivellement. Eine wahre Musterkarte von Physiognomien tritt uns entgegen: allen gemeinsam „der Schneid des Cirkuslebens“, das stetige Kämpfen und Spielen mit Gefahren, das Reisen durch aller Herren Länder, oft ein müder verlebter Ausdruck. Ein hohes Durchschnittsalter ist ihnen nicht gewährt. Einige glückliche Ausnahmen, wie der erste Thurmseilläufer Kolter, der das sechsundneunzigste Jahr erreichte, Blondin, der mit 65 Jahren den Niagarafall überschreitet, der siebzigjährige, noch in voller Thätigkeit sich dem Publikum zeigende Altmeister Renz, stehen vereinzelt da.

Und dabei geht es ihnen, wie den Kriegern in „Wallenstein’s Lager“ :

„Wer merkt es ihnen an,
Daß sie aus Süden und aus Norden
Zusammengeschneit und geblasen worden?
Sehn sie nicht aus wie aus einem Span?
Greifen sie nicht wie ein Mühlwerk flink
In einander auf Wort und Wink?“

Jeder hat ein anderes Vorleben. Die meisten Jünger der circensischen Kunst sind von zartester Kindheit an herangebildet, aber Begabung und Neigung haben oft auch im vorgerückten Alter die unüberwindlichen Schwierigkeiten überwinden lassen. Dieser beliebte Klown in weitem buntscheckigen Kostüm ist ein Aristokrat und gab seine militärische Laufbahn einer Kunstreiterin zu Liebe auf. Damen des englischen High-Life, lebenslustige Studenten, Kaufleute, die vielleicht ihr Soll und Haben nicht recht in Einklang zu bringen wußten, folgen einer Laune, einem Trotz, lassen sich von dem verführerischen Reize dieses Lebens der Bohémiens blenden und produciren sich nach wenigen Jahren als brave Künstler. Freilich unter ihnen mancher „Saltimbanque“ oder Viertelskünstler, „Schulzini“ oder „Don Lehmann“ genannt, das achte Weltwunder, das den Artistenstand kompromittirt. Barone, Sportleute, Gutsbesitzer – Spätlinge, deren Knochen zu ungelenk geworden sind, um erfolgreich mit den jungen Kräften in die Schranken zu treten – verwerthen ihr theoretisches Können, werden Regisseure, Geschäftsführer, Direktoren. Auch sind nicht alle Gelehrte, die sich als Specialitätenkünstler Unsummen verdienen. Das Abiturientenexamen wird nicht verlangt. Man erzählt von einzelnen, die nicht lesen und nicht schreiben können, so wie man es von alten Generälen behauptete, die ihrem Vaterlande die größten Dienste geleistet haben. Das schmälert ihr Verdienst nicht; die Exemplare werden auch immer seltener. Giebt es doch heute viele unter ihnen, die neben Trense und Kandare auch die Feder gewandt zu handhaben wissen. Besitzen doch die Künstler ihre eigenen Zeitungen: die in London dreisprachig erscheinende „Era“, den englischen „Klipper“ in New-York, die „Union internationale des artistes" in Paris und den deutschen „Artisten“ in Düsseldorf. Der Zug nach Verbesserung der Stellungen spielt, wie in allen Ständen, auch hier in den Leitartikeln eine Rolle. Die Engagementsgesuche und Anerbietungen machen die Lektüre auch für den Laien interessant. Hier offerirt sich ein Klown mit urkomischen Entrées nebst seinem dressirten Esel; dort sucht ein weltberühmter Seilläufer einen schwindelfreien jungen Mann, den er über das Thurmseil tragen will und der neben dieser tragischen Rolle noch die eines Kassirers zu handhaben hat, etc. In neuester Zeit strebt alles hin auf die Bildung einer Artistengenossenschaft – eines weitverzweigten Verbandes, wie er längst in der segensreichen deutschen Bühnengenossenschaft besteht zu gegenseitiger Unterstützung in Noth, Krankheit und Alter. Sie müßte aber nicht zur Vereinsmeierei, sondern ernst genommen weit umfangreicher werden und alle Länder umschließen; denn dieses Völkchen gleicht den Zigeunern. Sie haben kein Vaterland und sind doch überall zu Hause, wo man sie gern hat.

Sonst aber gleichen sie ihren südlichen Brüdern nicht so sehr, wie es manche wünschen möchten. Ihre Lebensformen weichen vielleicht in einigen Stücken von den bürgerlichen ab, nicht ihre Anschauungen. Wer sich in diese Kreise drängt, um unter dem Schutze leichterer Auffassungen von Liebe und Ehe vergnüglich zu tändeln, giebt sich einer Täuschung hin. „In diesem Falle denken sie höchst bürgerlich.“ Wer glaubt, daß sie nicht ernster hingebender Liebe fähig sind, unterschätzt sie. Das ewig lächelnde Antlitz vor dem tausendköpfigen Ungeheuer hindert nicht, daß sich in ihrem Herzen ein Parc reservé befindet, welchen nur betreten darf, wen sie ihrer Liebe würdig achten. Eine Künstlermutter, ein strenger Vater, ein Lehrherr, ein väterlicher Freund bewacht mit Argusaugen die Tugend der ihnen anvertrauten Novize. Die jugendliche ungebrochene Kraft ist die erste Bedingung für eine gute Leistungsfähigkeit, und schon aus diesem Grunde werden sie bewahrt wie Vestalinnen. Das Problem der selbständigen Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechtes fand im Cirkus längst seine praktische Lösung: Frauen ohne Beruf und Gage giebt es nicht. Sie sind nicht auf die Ehe angewiesen, um zu existiren, und wenn sie heirathen, ist die Liebe in der Regel das ausschlaggebende Motiv. Es giebt Ausnahmen wie in jedem Stande, aber den besseren lebt ein Kunstideal im Herzen, und wo sie dies zu Gunsten einer glänzenden Heirath außerhalb ihres Standes preisgeben, da büßen sie den Verrath an ihrem Berufe gewöhnlich in einem freudeleeren Dasein, das ihnen keine Befriedigung zu bieten vermag.

Die Liebe ist ein Pflänzchen, welches nicht wählerisch ist mit seinem Standorte. Sie blüht nicht nur in der Idylle des Dorfes, im traulichen Mansardenstübchen, im glänzenden Salon, sondern

sie schwingt sich auch auf das galoppirende Roß des Kunstreiters und springt im Salto Mortale von Trapez zu Trapez. Wie die Liebe und die Tugend, so gedeihen auch der Haß, der Neid, die Intrigne zwischen den Bändern und papierbespannten Reifen. Es ist eben der Cirkus – man gestatte mir die etwas freie Uebersetzung – in gewissem Sinne ein Circulus vitiosus, ein Erdkreis im Kleinen mit Freuden und Leiden, mit Ehre und Misère.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_158.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)