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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

von der Spiritusmaschine, wo sie das verordnete Süppchen kochte, herzustürzte, und daß draußen auf dem Korridor plötzlich Schritte erklangen und Baron Gerold im nächsten Moment auf der Schwelle stand.

„Ist Leonie krank?“ war die erste Frage, und seine verdüsterten Augen suchten das Kind im Bettchen, das jetzt seine Aermchen verlangend nach ihm ausstreckte, aber auch ruhig ward.

Frau von Berg war verlegen, aber sie blieb standhaft am Fuße des Bettchens. „Nein,“ erwiederte sie, „nur hungrig oder eigensinnig.“

„Aber es war nicht das Schreien eines eigensinnigen Kindes,“ sagte er kurz und bestimmt.

„Nun, es ist auch möglich, daß sie sich nicht wohl fühlt,“ erklärte die schöne Frau; „es ist mir schon längere Zeit vorgekommen, als vertrage die Kleine die Luft hier nicht; man denke auch, von dem weichen lauen Klima der Riviera nach dem deutschen Waldklima, in diese kühle scharfe Bergluft!“

Er sah sie ernsthaft an.

„Meinen Sie?“ fragte er. Und dieser Tonfall trieb ihr das Blut in die Wangen, sie fürchtete längst seinen Sarkasmus. „Ich bedaure nur,“ fuhr er gelassen fort, „daß das arme Kindchen da von dem ersten Arzte Nizzas direkt in diese scharfe kühle Luft verwiesen wurde. Es muß sich nun leider schon daran gewöhnen; denn vor der Hand liegt Nizza so wie so außer Frage, da sein Vater gegenwärtig gezwungen ist, hier zu bleiben. Im Uebrigen, meine liebe Frau von Berg, scheint ihm die ‚kühle, scharfe‘ Luft dennoch recht gut bekommen zu sein; gestern sah ich, wie das Kind lebhaft durch das Zimmer rutschte und sich an jenem Stuhl dort völlig allein aufrichtete.“

Frau von Berg zuckte unmerklich die Schultern.

„Was will das heißen für ein zweijähriges Kind?“ sagte sie.

„Bleiben Sie logisch, gnädige Frau; es ist hier davon die Rede, ob das Kind Fortschritte im Befinden gemacht hat oder nicht. Das Alter der Kleinen gehört nicht hierher. – Ich möchte Ihnen jetzt noch eine Mittheilung machen, die Sie vermuthlich interessiren dürfte. Ihre Durchlauchten, Prinzeß Thekla und Helene, werden in allernächster Zeit auf einige Wochen nach Neuhaus kommen, um sich persönlich von dem Befinden ihrer Enkelin zu überzeugen. Woher mag doch Ihre Durchlaucht wissen, daß der Reitenbacher Arzt mein Kind jetzt behandelt? Haben Sie keine Ahnung?“

Frau von Berg wechselte die Farbe. Sie blieb jedoch ruhig und zuckte die Achseln.

„In meinen verschiedenen Schreiben an Ihre Durchlaucht habe ich nichts davon verlauten lassen,“ fuhr er fort und trat von dem Bette an das Fenster; „ich liebe nicht das Hineinreden in die Anordnungen, die ich treffe. Außerdem – Prinzeß Thekla ist Homöopathin und hat alle Taschen voll Kügelchen und Tropfen. Haben Sie wirklich keine Ahnung, Frau von Berg?“

Sie schüttelte den Kopf. „Keine!“ antwortete sie.

Er achtete auch schon nicht mehr darauf; er preßte plötzlich die Stirn an das Fensterkreuz und starrte auf die Chaussee, die sich wie ein weißer leuchtender Streifen am Walde dort drüben hinzog. Da kam ein herzoglicher Wagen im schnellsten Tempo gefahren; ein Frauenantlitz ward einen Moment hinter der Spiegelscheibe des Fensters sichtbar, dann war die Equipage verschwunden. – Claudine fuhr nach Altenstein!

Als er sich umwandte, sah er seltsam bleich aus. Frau von Berg musterte ihn mit einem bösen Lächeln um den Mundwinkel; auch sie hatte den Wagen gesehen. Er bemerkte es nicht; er trat zu dem Bettchen des Kindes, das jetzt schlief, und betrachtete das kleine kränkliche Geschöpf lange Zeit.

Frau von Berg ging mit leisem Schritt in das Nebenzimmer. Er blieb stehen und allmählich legte sich ein harter bitterer Zug um seinen Mund. Die alte Kinderfrau hinter dem blauverhangenen Bettchen sah ihn starr an – der Herr mochte wohl das arme Kindchen gar nicht leiden, weil es seiner vergötterten Frau das Leben gekostet, als es geboren ward? Ja, ja, es kam das öfter vor, daß so ein Würmchen es entgelten mußte! Armes Ding, so ein unschuldiges Geschöpfchen, das bestimmt ist, stets mit vorwurfsvollen Augen angesehen zu werden; armes Ding!

Und plötzlich wandte sich der Mann dort am Bettchen und ging mit schnellen Schritten hinaus. Die Alte duckte sich scheu und hielt die Hände über das fest schlummernde Kind; sie meinte, die Thür müßte krachend ins Schloß fliegen, so desperat hatte er ausgesehen. Gott sei Dank! Er schloß sie zwar hastig und fest, aber die Kleine schlief weiter.

(Fortsetzung folgt.)




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Vom Nordpol bis zum Aequator.
Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Wanderungen der Säugethiere.


Wanderlust in dem uns verständlichen Sinne theilt mit uns kein anderes Thier, nicht einmal der Vogel, den wir um die göttliche Gabe der länderdurcheilenden, meerüberbrückenden Schwinge beneiden. Sorgenlos und frei wie der Wanderbursch, welcher auszieht, um fremder Länder Art und Sitte kennen zu lernen, wandert kein Thier; denn mehr noch als wir hängt es an der Scholle; fester als menschliches Heimweh binden es Gewohnheit oder Trägheit an die Stätte seiner Geburt. Schickt es sich an, diese Stätte zu verlassen, so gehorcht es zwingender Nothwendigkeit, so thut es dies regelmäßig in der Absicht, kommendem Elende zu entrinnen. Noth und Elend aber ist nur zu häufig das Geschick, welches die freudlose Fremde ihm bereitet, und so erfährt es kaum anderes als Wanderweh.

Dies gilt für die wandernden Fische wie für die ziehenden Vögel, insbesondere aber für die Säugethiere, welche zeitweilig Wanderungen unternehmen. Wenige unter ihnen thun letzteres mit derselben Regelmäßigkeit wie Fische und Vögel; alle aber thun es aus denselben Gründen. Sie wandern, um bereits fühlbar gewordenem oder doch drohendem Mangel sich zu entziehen, und ihre Reisen erscheinen daher eher als eine Flucht vor dem Verderben als ein Bestreben, glücklichere Gefilde zu erreichen.

Ich möchte unter den Wanderungen der Säugethiere weder die Ausflüge, welche Erweiterung des Verbreitungsgebietes bezwecken, noch die gewöhnlichen Streifzüge, welche der Nahrung halber geschehen, sondern einzig und allein jene gemeinschaftlichen Reisen verstanden wissen, welche einzelne Säugethiere in regelmäßiger oder unregelmäßiger Folge weit über die Grenzen ihres Heimathsgebietes hinaus, also in die Fremde oder zu Oertlichkeiten führen, auf denen sie eine ihnen fremdartige Lebensweise annehmen müssen, und welche sie, ebenso wie die Fremde, verlassen, sobald ihnen dies möglich geworden ist oder möglich erscheint. Derartige Reisen entsprechen noch am meisten den regelmäßigen Wanderungen der Fische und Vögel, und Kenntniß derselben fördert auch die Kunde, welche wir von jenen besitzen.

Ausflüge über die Grenzen zeitweiliger Aufenthaltsorte hinaus werden von allen Säugethieren und zwar aus verschiedenen Beweggründen unternommen. Einzelne, insbesondere alte Männchen, sind zum Umherschweifen geneigter als die Weibchen und die Jungen derselben Art, verlassen daher oft ohne erkennbare Ursachen ein Wohngebiet, um ein anderes aufzusuchen; jüngere Männchen gesellig lebender Arten werden von den ältesten Häuptern des Verbandes geradezu vertrieben und zum Auswandern gezwungen; Mütter mit ihren Kindern durchstreifen gern die Umgebungen des Geburtsortes der letzteren; die verschiedenen Geschlechter wandern, um sich zu finden und zu vereinigen. Gelegentlich solcher Ausflüge entdeckt das Thier irgendwo einen ihm besonders zusagenden Wohnort, ein nahrungsreiches Gebiet, ein schützendes Dickicht, eine zum Schlupfwinkel geeignete Höhlung, verbleibt hier längere oder kürzere Zeit und besiedelt endlich das neue Kanaan. Erfahrene Jäger wissen, daß auch ein gänzlich ausgeschossenes Revier früher oder später von außen her Zuzug erhält und unter günstigen Umständen von neuem bevölkert wird; und alle haben erfahren, daß ein Fuchs- oder Dachsbau, welcher nicht leicht zerstört werden kann, immer und immer wieder Bewohner findet, so

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_138.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)