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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Claudine hatte sich lächelnd über die Maschine gebeugt und drehte das Rädchen. Sie bemerkte das Verstummen Beatens nicht, nicht den verwunderten, fast erschreckten Blick, den diese auf die Landstraße hinaus richtete. Barmherziger Gott, das waren ja die rothen, goldbordirten Livreen des Hofes, die dort unter den Bäumen auftauchten!

„Du, Claudine, ich bitte Dich!“ rief sie, „die Herrschaften! Wahrhaftig, sie fahren hier heran!“

Claudine stützte sich plötzlich wie ohnmächtig auf die Lehne der Bank; mit erschreckten Augen sah sie hinüber auf die Wagen, die eben hielten; durch den Mittelweg stürzte Heinemann in Hemdsärmeln, bemüht die Arbeitsschürze abzustreifen; vermuthlich, um in die alte Livree zu fahren. Fräulein Lindenmeyer’s Fenster klirrten so hastig zu, wie noch nie, und Beate wendete sich zur Flucht, da fiel ihr Blick auf Claudine.

„Was hast Du?“ flüsterte sie und faßte das Mädchen an der Hand. „Komm, wir müssen ihnen entgegen gehen, oder ist Dir unwohl geworden?“

Aber schon hatte sich das schöne Mädchen aufgerichtet; sie eilte hinunter und schritt so sicher der Gartenpforte zu, als gehe sie bei einem glänzenden Hofball über das spiegelnde Parkett, als trüge sie statt des einfachen Kleides aus roher Seide und dem schwarzen Taffettschürzchen die stolze Kourschleppe aus mattblauem Sammet, in der sie noch vor Kurzem alle Anwesenden bezaubert hatte. Beate folgte ihr mit bewundernden Augen. Wie unendlich graziös sank eben die herrliche Gestalt in tiefer Verbeugung zusammen, wie demüthig neigte sie die schöne Stirn unter dem Kuß der Herzogin!

Beate bog sich vor, um die Herren zu sehen. Mein Gott, da stand ja Lothar neben dem Herzog, und eben schickten sie sich an, dem Hause zuzugehen, die fürstliche Frau am Arme Claudinens. Rasch schlüpfte sie durch die Glasthür in die Wohnstube und von dort in Fräulein Lindenmeyer’s Zimmer. Die alte Dame hatte ja wohl vor lauter Aufregung die Besinnung verloren; sie stand vor dem Spiegel und stülpte die rothbebänderte Haube auf, die einen eben so desperaten Eindruck machte, wie ihre Besitzerin, deren Hände keine Nadel in die Haube zu stecken vermochten vor Zittern. Das alte Fräulein bot einen drolligen Anblick; sie hatte zwar schon die schwarze Kleidertaille angelegt, aber der Rock hing noch vergessen im Spinde mit den weit aufgesperrten Thüren; sie bebte wie Espenlaub.

„Lindenmeyerchen, echauffiren Sie sich doch nicht!“ rief Beate belustigt; „sagen Sie mir lieber, wo die Krystallteller aufbewahrt werden, die noch von der Großmama stammen, und wo Claudine die silbernen Löffel hat? Und dann setzen Sie sich in Ihren Lehnstuhl ans Fenster: für den Zweck genügt Ihre Toilette just; und betrachten Sie später in aller Ruhe die Herrschaften, wenn sie im Garten spazieren.“

Aber die alte Dame hatte so völlig den Kopf verloren, daß sie betheuerte, sie wisse sich in diesem Augenblicke auf nichts, rein gar nichts zu besinnen, und wenn sie sich das Leben damit retten könnte. Und lachend machte Beate die Thür zu und stieg die Treppe hinauf zu dem Träumer. Der hatte natürlich noch keinen Schimmer von der Ehre, die seinem Hause widerfuhr, und sah und hörte nichts als seine eigenen Gedanken. Sie schüttelte den Kopf und stand doch zaghaft vor der altersbraunen Thür, die in die Glockenstube führte. Ein helles Roth lag über ihrem Gesichte, als sie auf sein „Herein!“ den Drücker bog, und plötzlich sah ihr Antlitz, dieses strenge Antlitz mit den starken Linien, mädchenhaft lieblich aus.

„Joachim, Sie haben Besuch,“ sprach sie; „nehmen Sie Ihr köstlichstes Gewand und kommen Sie; das herzogliche Paar ist unten.“

Und als er den Kopf hob und sie ärgerlich und verwundert ansah, lachte sie, und das war wieder das nämliche Lachen wie vorhin.

„Aber eilen Sie doch! Die Hoheiten werden den Hausherrn vermissen. Ich komme nach mit einer Erfrischung.“

Unwillkürlich fuhr er sich in das üppige braune Haar. Das fehlte noch im Eulenhause … Allerhöchster Besuch! Was wollten sie bei dem – Verarmten? Ah – Claudine, sie wollen Claudine wieder holen!

Mit finsterer Miene eilte er hinaus. Sie stand noch ein Weilchen in dem Gemach und sah sich um, scheu wie ein Kind, das zum ersten Male die Kirche betritt. Dann schlich das große robuste Mädchen auf den Zehen an den Schreibtisch und spähte herzklopfend mit purpurrothen Wangen nach dem offenen Hefte, auf dem die Feder lag. Die Buchstaben dieser feinen leichten Schrift waren noch nicht getrocknet; dort stand der Titel: „Einige Gedanken über das Lachen“. Sie schüttelte wie verwundert den Kopf und sah von dem Manuskripte zu dem geöffneten Bücherschrank, und da zuckte wieder ein Lächeln um ihren Mund, aber diesmal nicht schalkhaft; es war das innerer herzlicher Befriedigung, und so lächelnd ging sie hinunter in die Speisekammer, stellte frische, duftende Walderdbeeren und Streuzucker auf einen Präsentirteller und kam, von Heinemann gefolgt, der in der längst nicht mehr getragenen Gerold’schen Livree etwas wunderlich aussah, dessen altes ehrliches Gesicht aber vor Ehrfurcht in die feierlichsten Falten gelegt war, zu dem Tisch auf der Plattform, als just die Herzogin sich erhoben hatte, um den Wachskeller zu besuchen, der freilich nur noch den kleinsten Rest des Fundes barg.

Beate von Gerold war den Herrschaften bereits vorgestellt worden; als ihr Bruder sich mit einer Prinzeß des herzoglichen Hauses vermählte, hatte sie ihre drei qualvollsten Lebenstage in der Residenz verbracht, hatte Besuche machen müssen und wieder empfangen, hatte dinirt bei der Prinzeß Thekla und einen Rout im Schlosse „überstanden“, wie sie sagte. Sie hatte einmal himmelblaue Seide, einmal gelblichen Atlas getragen und war sich sterbensunglücklich darin vorgekommen, weil die Taille wie „angeknallt“ gesessen; anders hatte die Schneiderin es nicht gethan. Und als sie zurück nach ihrem Altenstein gekommen, war sie mit köstlichem Behagen wieder in die dehnbare Trikottaille gefahren und hatte geschworen, lieber Steine zu klopfen, als bei Hofe zu leben. In Erinnerung hieran fiel ihre Verbeugung sehr wenig devot aus, und ihr Gesicht zeigte ganz den Ausdruck, den Joachim als barbarisch zu bezeichnen pflegte.

„Also in den Wachskeller, meine Herrschaften,“ mahnte der Herzog und legte seiner Gemahlin fürsorglich das rothe, golddurchwirkte Mäntelchen um die Schultern. Claudine nahm einen großen Schlüssel aus dem Körbchen, das neben der Nähmaschine auf dem Tische stand, und hieß Heinemann vorangehen; Joachim führte die Herrschaften. Sie selbst eilte in das Haus, um die noch immer fehlenden Löffelchen und Teller und ein Tafeltuch auszugeben.

Sie that es mit zitternden Händen und um ihren Mund lag ein gramvoller Zug. „Warum?“ fragte sie halblaut, „warum auch hierher?“ Und sie lehnte den Kopf an die Pfosten des alten Eichenschrankes, der das Linnen der Großmutter barg, als suche sie eine körperliche Stütze in dem Sturme, der durch ihre Seele ging. „Nur ruhig –“ flüsterte sie und preßte die Hand gegen die Brust, als wollte sie das stürmisch klopfende Herz gewaltsam zum Gehorsam zwingen. Und sie konnte, was sie wollte. Als sie ein paar Minuten später sich anschickte, den Herrschaften in den Keller nachzufolgen, da war ihr ernstes schönes Antlitz unbewegt wie immer.

„Halt!“ sagte eine tiefe Stimme am Kellergewölbe, „bis hierher und nicht weiter! Sie haben keine Umhüllung, und dort unten ist es kühl.“ Baron Lothar stand in dem dämmerigen Gewölbe und streckte die Hand gegen sie aus. „Wenn Sie Ihre Ungeduld noch ein wenig bemeistern könnten, Kousine,“ fuhr er fort, und es klang fast wie Hohn, „ich höre die Herrschaften die Treppe heraufsteigen. Das war doch die Stimme Seiner Hoheit soeben? Oder irre ich mich?“

Sie hielt seinem Blick Stand und zuckte nur leicht die Schultern. Er sah sie so eigenthümlich an, fast drohend.

„Es ist besser, wir erwarten die Hoheiten dort oben,“ sprach er weiter, „hier –“ Er brach ab, denn sie hatte sich umgewandt und schritt die Stufen empor, die in den Flur des Hauses führten, und von dort, ohne sich umzusehen, auf den anmuthigen Platz. Er folgte ihr und lehnte sich gegen den Pfosten der Glasthür, indem er den einfach servirten Tisch musterte. Da erinnerte nichts an ein altes begütertes Geschlecht; es fanden sich nur simple Glastellerchen und dünne verbrauchte Löffel. Das Silberzeug des Hauses stand ja in seinen Schränken; allein der Damast des Tischtuches zeigte das Wappen der Gerold’s in den Ecken, ein Meisterstück der Webekunst. Die alte Dame hatte es ehedem mit hierher genommen auf ihren Wittwensitz als eine Erinnerung an jenen Tag, da es zum ersten Male aufgelegen, an dem Tauftage ihres Sohnes.

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