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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Ein irrsinniger poëta laureatus.


Albert Lindner.

Es ist ein ziemlich weit verbreiteter Glaube, daß das hehre Feuer, welches den Dichter beseelt, eigentlich eine Brandfackel sei, die nur zu leicht das Gebäude, in welchem die großen und schönen Gedanken und Pläne wohnen, zerstören könne. Nichts ist irriger! Die Flamme, welche das Genie, das Talent entzündet, ist keine verzehrende, sondern eine erhaltende Kraft, welche sogar im Stande ist, den bereits dem Tode verfallenen Leib des Dichters noch über die Verfallzeit hinaus für die Welt zu retten, wie wir an Schiller hierfür ein großes Beispiel besitzen. Man sollte daher endlich aufhören, davon zu sprechen, daß „das Mal der Dichtung“ ein „Kainstempel“, daß der Poet so zu sagen für das Irrenhaus bestimmt sei und nur durch besonders glückliche Umstände vor diesem Schicksal bewahrt werden könne. Wenn einige Dichter dem Irrsinn verfielen, so lag das nicht daran, daß sie Dichter waren, sondern theils an einer krankhaften Veranlagung, die sich neben ihrer dichterischen Begabung verhängnißvoll entwickelte, theils daran, daß der Kampf mit der gemeinsten Noth des Lebens die geistige Kraft, die obendrein vom Dichter übermäßig angestrengt wurde, um aller Sorge zu begegnen, nothwendiger Weise brechen mußte; ja diese zweite Ursache wird in den meisten Fällen allein das Unglück bewirkt haben, für das die theilnahmlose Welt so gern die Verantwortung von sich abwälzt, um sich in einem wohlfeilen Bedauern über die unabwendbare Tragik des Dichterschicksals ergehen zu dürfen.

Ein Beispiel dafür, welchen Einfluß die gemeine, zur Verzweiflung führende Noth auf einen reichbegabten Dichter zu haben vermag, liefert auch der unglückliche Mann, mit dem sich die nachfolgenden Zeilen beschäftigen sollen.

Als im Februar 1886 die Nachricht durch die Zeitungen verbreitet wurde, daß der Dramatiker Albert Lindner geisteskrank geworden sei und in der Heilanstalt zu Dalldorf bei Berlin untergebracht werden mußte – da gab es gewiß nicht nur viele Bewohner der Hauptstadt, welche seinen Namen zum ersten Male hörten, sondern auch einem großen, vielleicht dem größten Theile des deutschen Volkes wird er völlig fremd gewesen sein; und diejenigen, denen er hätte bekannt sein können, werden sich auch nur mit Mühe desselben erinnert haben; denn die Menschen besitzen ein kurzes Gedächtniß und wollen immer wieder auf den Mann, den sie nicht vergessen sollen, aufmerksam gemacht sein. Und doch hatte dieser dem Irrsinn Verfallene dem litterarischen und gebildeten Deutschland eine Zeit lang recht ernsthafte Theilnahme abgenöthigt – aber freilich, nicht gestern, auch nicht vorgestern, sondern – es ist wirklich fast ein Menschenalter darüber hingegangen!

Es war im Kriegsjahre 1866, als die Welt plötzlich von der Nachricht überrascht wurde, daß in dem halb und halb klassischen Rudolstadt ein neuer Klassiker entdeckt worden, ein Dramatiker, der des großen Schiller-Preises für würdig befunden – man horchte auf. Damals war dieser Schiller-Preis noch von größerer Bedeutung als heut zu Tage; Hebbel war der erste Gekrönte gewesen – Hebbel, der merkwürdige Meister, dessen von der Parteien Haß und Gunst entstelltes Charakterbild zwar in der Geschichte des Tages bedeutend schwankte, dem an die Seite gestellt zu werden jedoch für ein hohes, vielleicht das höchste Maß der Ehren, welche einem Dramatiker zu Theil werden konnten, angesehen werden mußte – und dieser Genosse des Nibelungendichters war ein Gymnasiallehrer in Rudolstadt, ein Mann, von dem noch Niemand etwas gehört hatte, der zwar bereits einen „Dante Alighieri“ (1855) und einen „William Shakespeare“ (1864) gedichtet, aber die Welt noch niemals auf sich aufmerksam gemacht hatte!

Man erfuhr jetzt, daß der aus dem Dunkel hervorgehobene Mann am 24. April 1831 in Sulza geboren worden, daß sein Vater ein Obersteiger, seine Mutter eine Bauersfrau sei, welche mit anderen Frauen ihres Standes den Weimarer Wochenmarkt mit Butter und Käse versorgte, daß er als zehnjähriger Knabe das Gymnasium in Weimar bezogen, von den Eltern zum Pfarrer bestimmt wurde, aber seinem innern Drange folgend in Jena und Leipzig Philologie und Aesthetik studirt hatte und nun, wie bekannt, in Rudolstadt als Gymnasiallehrer thätig sei. Also eine ganz gewöhnliche kümmerliche Vergangenheit – nichts von Sturm und Drang, nicht einmal irgend ein „genialer“ Streich! Selbst der Name klang nicht recht: Albert Lindner – ein weichlicher Name. Aber der Titel des gekrönten Werkes tönte desto gewaltiger: „Brutus und Collatinus“ – zwei Helden auf einmal! Man war begierig auf das Werk – es wurde aufgeführt – gefiel nicht, und die Verleiher des Preises mußten sich von allen Seiten den Vorwurf gefallen lassen, daß sie sich geirrt, daß sie einen Dichter aus dem Dunkel hervorgezogen, welcher den Glanz des Ruhmes nicht, oder wenigstens noch nicht verdiene. Gewiß ein harter Vorwurf; aber die Welt liebt es bekanntlich, das Strahlende zu schwärzen – und warum konnte sie sich nicht eben so mit ihrer Verurtheilung geirrt haben, wie die Preisrichter sich mit ihrer Anerkennung geirrt haben sollten? Schon im „Hamlet“ steht zu lesen, daß ein gutes Drama „Kaviar fürs Volk“ und deßhalb vom Erfolg ausgeschlossen sei – warum könnte dieser Mißerfolg des gekrönten Werkes nicht gerade dafür sprechen, daß die Richter das Richtige getroffen? Selbstverständlich stand der über Nacht berühmt gewordene Dichter auf Seiten der Preisrichter und bestätigte ihr gutes Urtheil dadurch, daß er seine Stellung als Lehrer aufgab, nach Berlin, wo man, wie er wähnte, den Laureatus mit Jubel empfangen und auf Händen tragen würde, übersiedelte und fortan als Dichter zu leben gedachte. Seine Braut, mit der er sechs Jahre verlobt war, und andere Freunde hatten es versucht, ihn von dem gefahrvollen Entschluß abzubringen – umsonst: der verschlossene, stets nur beschaulich dahinlebende Dichter schwärmte von seinem Gottesgnadenthum und schmeichelte sich sogar mit der Hoffnung, Vorleser der Königin von Preußen zu werden, die als weimarische Prinzessin und Litteraturfreundin den thüringischen Nachfolger Schiller’s gewiß unter ihren hohen Schutz nehmen würde. So traf er in Berlin ein, und – Niemand bekümmerte sich um ihn; ja Diesem und Jenem war es höchlichst unbequem, den aus der Ferne gekrönten Dichter sich plötzlich so nahe gerückt zu sehen. Der aus allen Himmeln gefallene Besitzer des Schiller-Preises klopfte dort und hier an und fand alle Thüren verschlossen – man wollte nichts von ihm wissen. Die 3000 Mark, welche der unselige Schiller-Preis ihm verschafft hatte, waren allzunächst den Weg alles Geldes gegangen – was thun? Nach Rudolstadt konnte und wollte er wohl auch nicht zurückkehren – glücklicher Weise fand er eine Anstellung an einer Realschule Berlins, wo er für die Stunde fünfzehn Silbergroschen (1 Mark 50 Pfennig) erhielt; und auf diese Stellung hin heirathete er das Mädchen, welches beinahe sieben Jahre seine Braut gewesen war. Vor dem Aeußersten war er nun wohl geschützt; aber der Schlag, der ihn getroffen, war nicht zu verwinden; er wurde seitdem noch scheuer und verschlossener, hörte jedoch nicht auf, sich an großen Stoffen abzuarbeiten, nur immer nach dem Höchsten zu trachten, ohne nach links und nach rechts zu blicken und zu fragen, was der Welt etwa gefällig sei.

Ein neues Drama „Katharina II.“ ging spurlos vorüber. Endlich gelang es ihm, in der „Bluthochzeit“ (1871) ein Stück zu schaffen, das auch der Menge zusagte und mit dem Erfolg zugleich größere Einnahmen brachte. Nun durfte der vielgeprüfte Mann doch wieder hoffen, um so mehr, als ihm auch die Stellung als Bibliothekar des Reichstages einen festen Halt gab. Leider zeigte er sich dieser Stellung nicht gewachsen; Ordnungssinn und Uebersicht mangelten ihm, und als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 329. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_329.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)