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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 15.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


20.

Margarete stand am anderen Morgen im offenen Fenster der Hofstube. Sie fegte das dicke Schneepolster vom Steinsims draußen und streute Brotkrumen und Körner für die hungernden Vögel. Droben über dem weiten Viereck des Hofes stand ein klarblauer, frostflimmernder Himmel; nicht das kleinste Flöckchen hatte er zurückbehalten, und wenn es noch da und dort silbern hernieder stäubte, so kam es von einem der müdegewordenen Lindenzweige, die einen Theil der schweren Schneelast zu Boden sinken ließen … Es war sehr kalt. Keine Taube wagte sich heraus auf die Flugstange, und die Vögel, für welche der Futterplatz zurecht gemacht wurde, hungerten auch lieber in ihren Verstecken – nicht das leiseste Fluggeräusch unterbrach die tiefe Morgenstille des Hofes. Margarete wollte eben frostdurchschauert das Fenster schließen, als die Thür des Stallraumes im Weberhause geöffnet wurde und der Landrath auf seinem schönen Braunen über die Schwelle ritt. Er grüßte herüber und kam direkt unter das Fenster.

„Du reitest nach Dambach hinaus zum Großpapa?“ fragte sie ihn hastig wie mit zurückgehaltenem Athem.

„Zunächst nach dem Prinzenhofe,“ antwortete er und zog glättend an seinem neuen, eleganten Handschuh. „Vielleicht gelingt es mir besser als Dir, in den Zügen der jungen Dame zu lesen, was ich wissen will – was meinst Du dazu, Margarete?“

„Ich meine, daß Du das bereits weißt und durchaus nicht nöthig hast, ein Orakel zu befragen,“ sagte sie schroff. „Ob Dir aber die Dame so in aller Frühe Rede stehen wird, das ist eine andere Frage. Sie sieht zu wohlgepflegt aus, als daß man an ein Frühaufstehen glauben möchte.“

„Da bist Du wieder sehr im Irrthum. Ich wette, sie ist in diesem Augenblick bereits bei ihrer Lady Milford im Stalle und sieht nach dem Rechten. Das Reiten ist ihre Passion – Du hast sie noch nicht zu Pferde gesehen?“

Sie schüttelte den Kopf und warf ihn zurück.

„Nun, sie reitet süperb und wird viel bewundert. Sie sieht in der That aus wie eine Walküre, wenn sie auf ihrem stattlichen Pferd daher kommt. Diese Lady Milford ist übrigens kein englisches Vollblut, ist vielmehr eine


Linde Heinrich’s des Löwen in Braunschweig. 0Originalzeichnung von C. Bourdet.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_241.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)