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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Gelagen im Burgkeller und zu Lichtenhain, den Paukereien auf dem Fechtboden, schwärmte ich für Poesie, machte Gedichte und schrieb fleißig an den Herrn Magister, gewöhnlich in mehr oder weniger classischen Hexametern. Nach Hause ging ich nicht in dieser ganzen Zeit; während der Ferien machte ich Reisen mit einem oder dem andern Freunde im romantischen Stil; Alles zu Fuß; durch Thüringen, den Main hinunter, den Rhein hinauf, wobei alle an der Tour liegenden Universitätsstädte mitgenommen wurden. In Heidelberg blieb ich einst sechs Wochen liegen, weil ein dort studirender Landsmann, der mich Ritter von der ,Goldenen Elle‘ geheißen, bei der darauffolgenden solennen Paukerei mir die Nase beinah aus dem Gesichte hieb. Und auf diesem Schmerzens-Lager packte mich abermals die Sehnsucht nach der Heimath und der Mutter. Einmal schrieb mir die Schwester und berichtete, daß sie verheirathet sei, daß Friedrich das väterliche Geschäft übernommen habe, und daß der Mutter Wunsch erfüllt, der Bruder zum „Hoflieferanten“ ernannt worden sei. Die resolute Frau hatte sich eines Tages aufgemacht und eine Audienz bei der Fürstin nachgesucht. Es war noch in einem Postscriptum hinzugefügt: Friedrich gehe auf Freiersfüßen um die Minna Kerstens.

Minna Kerstens war die Tochter des Schloßmühlenbesizers, aber den Schmeichelnamen der ‚schönen Müllerin‘ konnte ihr Niemand geben. Groß, blond, von mächtigem Gliederbau, kam sie fast ungeschlacht daher; die Mutter hatte früher oft scherzhaft geäußert, wenn die Minna ein Kleid gebrauche, so sei ein Geschäft zu machen, denn sechs Ellen müßte das Mädchen nothwendig mehr haben, als andere Leute. Aber Gott hatte in seiner Gerechtigkeit einen Ausgleich ersonnen und ihr ein paar der ungewöhnlichen Natur entsprechende Geldsäcke, wohlgefüllt und schwer, verliehen, die sie dem Glücklichen, der sie heimführte, als Mitgift zubrachte. Nun, praktisch war Friedrich immer. Und richtig, als ich eines Abends in rosigster Stimmung von einem Commers aus Lichtenhain zurückkehrte, lag die goldengeränderte Verlobungskarte auf meinem Tische.

Ich faßte mich kurz und gratulirte ihm zu seinem kolossiven Glück. Und dieses „kolossive Glück“ verstand er denn auch, wie ich es gemeint und wie es ja nicht anders zu verstehen war. Darauf kam ein Brief, nicht von ihm, wohl aber von meiner Mutter, der mich wieder auf Wochen verstimmte, weil er mir in bittern Worten vorwarf, daß ich den Bruder ernstlich gekränkt, und mit ihm die ganze Sippschaft der neuen Schwägerin; es sei doch wohl genug des Kummers, den ich ihr draußen in der Welt bereite, ich möchte wenigstens mein Vaterhaus mit Aergernissen verschonen. Der Brief sprach deutlich zwischen den Zeilen: – man hielt mich für ein verbummeltes Genie, für einen wüsten Menschen, aus dem nie etwas Ordentliches werden würde.

Ja, sie maßen eben Alles mit ihrer Krämerelle; was konnten sie wissen, wie einem flotten Burschen zu Muthe?

Daß ich es ehrlich gestehe, der Brief war ganz darnach angethan, mich völlig wild zu machen. Ich kam nun nicht viel mehr heraus aus den Paukereien und Kneipereien, bei dem tollsten Blödsinn war ich fortan unter den Ersten, und das Geld spielte gar keine Rolle mehr bei diesen Verrücktheiten. Daß sie daheim Kunde von der tollen Wirthschaft erhielten, dafür brauchte ich nicht zu sorgen, auch bewiesen es schon ganz allein meine kurzen Briefe, die Geld um Geld verlangten. Ohne Anstand erhielt ich selbst namhafte Summen, und nur ein einziges Mal standen zwei Zeilen von der Hand der Mutter daneben: ‚Ich hab’s gehabt – ist ein armer Mann!‘

Nun will ich mich aber nicht schlechter machen, als ich war. Ein Wüstling ward ich nicht, und ganz gebummelt habe ich auch nicht, denn der Drang nach Wissen, die Lust zur Sache war mächtiger in mir, als alle Jugendlust; und wenn wir spät in der Nacht von einem Commers heimkamen, so fand mich doch schon der folgende Morgen im Hörsaal, und der Collegien, die ich versäumte, sind es eigentlich wenige gewesen. Auch verkehrte ich nicht allein in dem bunten Studententreiben, denn Dank des Magisters Empfehlungen kam ich in manch Professorenhaus und zu manchem wohlgesitteten Thee-Abend, zu mancher soliden Landpartie, wo ich ein blondes Professorentöchterlein unter den Bäumen herumschwenken durfte; aber freilich, das erfuhren sie nicht daheim.

Im Frühsommer des kommenden Jahres meldete sich ein unheimlicher Gast in Deutschland an, die Cholera. Erst nahm sie ihre Opfer hier und da, wie zum Spiel verschonte sie manche Orte ganz, dann verschwand sie in grausamer Neckerei ein Weilchen, um mit Herbstes Anfang sich wüthend auf viel blühendes Leben zu werfen. Von Arnstein hatte man bis jetzt wenig gehört – da, eines Tages theilte mir der Herr Magister mit, daß die Fürstin, durch den Tod ihrer so innig geliebten Hofdame auf’s Aeußerste erschreckt und betrübt, Arnstein verlassen habe, um sich auf ein Jagdschloß ihres verstorbenen Gemahls zu begeben, das, tief in den Wäldern versteckt, ihr Sicherheit gegen die schreckliche Krankheit und Einsamkeit für ihre Trauer gewähren solle, und daß er, der Herr Magister, ihr noch heute dorthin zu folgen gedenke. Es sei ein grausiger Reigen, den der Tod jetzt anhebe in unserem freundlichen Städtchen, hatte er hinzugefügt, und warum nicht er dahingerafft sei, anstatt dieser voll erblühten Rose?

Mir war gewitterschwül und bang zu Muthe; es ist so eigen, wenn man ein Paar leuchtende Augen gekannt hat und sie dann so jäh geschlossen weiß. Und von dem fröhlichen Schloß, von dem stillen Eckzimmer, an dessen Fenster ich so oft das schöne Mädchen gesehen, irrten meine Gedanken zu dem alten Giebelhause auf dem Markt und hingen sich an ein alterndes Frauenantlitz mit sehnsüchtig angstvoller Gewalt: – meine Mutter – wenn sie sterben müßte, und ich hätte sie nicht wiedergesehen! Es war ein Gedanke, der mich mit Folterqualen packte.

Ein paar Tage, ein paar schlaflose Nächte hindurch ertrug ich ihn. Da, am andern Morgen, körperlich fast krank, traf ich einen Mann auf der Straße; ich kannte ihn von Ansehn, er ging seit langen Jahren mit Schuhen hausiren, die er in meiner Vaterstadt aufzukaufen pflegte.

‚Kommen Sie aus Arnstein?‘ redete ich ihn an.

Er bejahte. ‚Sieht schlecht aus da, junger Herr,‘ setzte er hinzu, ‚die Cholera hat die Leute beim Schlafittchen, sie wissen selbst nicht wie; das ganze Nest stinkt von allerhand Räucherwerk und den Leichenträgern blüht der Weizen.‘

Ich wollte den Mund aufthun zu einer Frage und scheute mich doch.

‚Sie räumt diesmal recht auf unter den Vornehmen,‘ fuhr er geschwätzig fort. ‚Den Herrn von Niedeck aus der Weißgasse haben sie hinausgeschleppt, und den Herrn Bürgermeister brachten sie im Trab, just als ich aus dem Erfurter Thor schritt gestern beim Tagesgrauen. Die Frau Amtsräthin und das schöne Hoffräulein sind todt, und in der Löwenapotheke lebt nur noch die alte halbblinde Großmutter und das Sechswochenkindchen, das junge Paar haben sie mitsammen fortgeschafft –‘

‚Meine Schwester?‘ stieß ich hervor.

‚Ihre Schwester? O, die geborne Rüdiger – ja, ja – sie hat ihren Mann gepflegt, der starb zuerst, dann kam’s an sie – –‘

Ich stürmte fort, wie ich ging und stand, und löste mir ein Postbillet. In der nächsten Stunde schon schwankte das schwerfällige gelbe Fuhrwerk über die Höhe von Jena.

Am folgenden Morgen, um vier Uhr, langte ich in Arnstein an. Ein feiner Nebel hing an den Bergen und über dem Schloßpark und lagerte auf den Dächern der Stadt, als der Wagen durch das Thor rollte. Die Hausthüren waren noch alle fest verschlossen, als scheue man die Morgendünste; nur ein paar Ackerwagen begegneten mir, und am Ritterbrunnen, wo ich ausstieg, vier Männer; die trugen eilig einen unheimlichen Korb an langen Stangen und schienen, trotz der Morgenfrühe, nicht mehr ganz nüchtern, wenigstens ließen sie einen starken Duft von Wachholderbranntwein hinter sich zurück. Die Kirchthür stand offen, ein altes Weiblein schlich hinein; sonst war es unheimlich still, nicht einmal die zahllosen Sperlinge lärmten mehr in den Linden, die Morgens ein Geschrei zu machen pflegten, daß sich die anwohnenden Leute darüber beschwert hatten, und doch traf schon ein rosiger Sonnenstrahl die bekannten Giebel.

Ich schritt weiter. In der Thür des Backhauses stand die runde Frau Meisterin, die mir so manchen Kringel verkauft hatte. Auch sie trug ein Trauerband an der Haube.

Ich grüßte flüchtig und wollte vorüber.

‚Jesus!‘ schrie sie hinter mir auf, ‚Herr Rüdiger! Herr Rüdiger! Erschrecken Sie sich nur nicht. Da bei Ihnen –‘

Ich winkte mit der Hand ab, ich wollte es nicht hören; – ich wußte ja, meine Mutter war es – meine Mutter!

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