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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

desertirt? Es ist wohl eine Wandlung mit Dir vorgegangen, aus dem sansculottischen Saulus ist ein royalistischer Paulus geworden? Oder sollte das kleine Ding in der Hand der Frau dort Deine zarten Nerven so gewaltig erschüttert haben?“

Es war der Commissair des Wohlfahrtsausschusses Saint-André, der mit seinem Gefolge gleich nach Carrier in Tours angelangt und, von dem öffentlichen Ankläger Bouilly geführt, sofort nach der Abtei geeilt war. Beide Beamten der Republik hatten die Schwelle der Kirche im entscheidenden Augenblick erreicht, und mit durchaus verschiedenartigen Gefühlen waren sie dem Auftritt gefolgt. Saint-André empfand eine nicht geringe Freude über die fatale Niederlage Carrier’s, die er jedoch nur durch seine ironischen Worte kundgab, während Bouilly’s Blicke leuchteten, nicht etwa nur aus Theilnahme: er hatte die Scene mit den Augen des Dichters, des Dramatikers erschaut.

Nach den Worten Saint-André’s, die Carrier wie mit glühenden Nadelstichen treffen mußten, hatte sich dessen Lippen ein grimmer Fluch entrungen und keuchend, zitternd vor Wuth und Schrecken, erhob er sich vom Boden. Schon redete Saint-André weiter, und mit ernstem, beruhigendem Ton wandte er sich an Blanche, die noch immer die toddrohende Waffe schußfertig in ihrer Hand hielt.

„Setzt die Waffe in Ruhe,“ so sprach er, „Ihr habt von uns nichts für den Mann an Eurer Seite zu fürchten: die Republik wird ihn richten, und ihrer Gerechtigkeit dürft Ihr vertrauen.“

Da löste sich die Starrheit der heldenmüthigen Frau in ein krampfhaftes Schluchzen auf. Die Pistole ließ sie zu Boden fallen, und beide Arme um den Hals des Gatten schlingend, ihn krampfhaft an ihre Brust drückend, stieß sie unter Weinen und Lachen nur die Worte hervor: René, mein René!“

„Mein geliebtes, heldenmüthiges Weib! meine theure Blanche, wie kann ich Dir danken – wie Dir jemals vergelten, was Du in Deiner Liebe für mich gethan hast?!“ So vermochte René endlich zu reden, und indem er die geliebte Gattin in seinen Armen hielt und ihre Stirn küßte, wurden auch seine Augen feucht. Und er schämte sich dieser Mannesthränen nicht, hatte doch mancher der rohen Sansculotten nach den Augen fahren müssen, sich dort ein Naß wegzuwischen, das ihnen wohl schon längst fremd geworden sein mußte.

Nun grüßte auch der alte Gratien mit thränenfeuchten, doch glücklichen Blicken seinen Herrn, nur Pujol stand abseits, finster zu Boden blickend, als wenn er nicht würdig sei, sich der Gruppe der Glücklichen zu nähern.

Carrier war hinaus in den Hof gestürzt, von Le Borgne gefolgt. Nun verließen auch Saint-André und Bouilly den Kirchenraum, und scheu theilte sich die Menge vor dem buntgeputzten hohen Beamten der Republik. Da trafen sie auf Carrier, der zornwüthenden Blickes sich vor Saint-André hinstellte und ihm mit zischenden Tönen die Worte zuschleuderte:

„Ich reite direct nach Paris, um dem Comité, das Dich gesandt hat, Dich und Dein verrätherisches Thun zu denunciren!“

„Und ich begleite den Bürger Carrier, um als Zeuge gegen Euch Alle auszusagen!“ schrie Le Borgne, zugleich den Bund Schlüssel Bouilly vor die Füße werfend.

„Gehe!“ rief Saint-André mit höhnischem Drohen Carrier nach, der auf die in der Nähe des Thors angebundenen Pferde zuschritt, „und sieh Dich vor, daß Du nicht selber auf die Guillotine geschickt wirst! Doch nun ist es Zeit zu frühstücken,“ wendete er sich jetzt fast scherzend an Bouilly. Der Satansmensch hat mir seit fünf Uhr in der Früh keinen Augenblick gegönnt, um nur einen Bissen, einen Trunk zu mir zu nehmen, was allein schon die Guillotine verdient hätte, welcher der Wahnwitzige gewiß nicht entgehen wird. Gebt rasch Eure Befehle, dann kommt, alles Uebrige besprechen wir bei Tische, denn auch ich darf keinen Augenblick mehr säumen, muß rasch ihm nach und nach Paris.“

Bouilly ließ den Hof von dem Pöbel, der eingedrungen war, säubern, dann hieß er einen der Wächter die Schlüssel an sich zu nehmen, die Kirchenpforte zu schließen und die Gefangenen einstweilen in ihrem Verwahrsam zu belassen und zu bewahren.

Carrier und Le Borgne trabten auf ihren abgetriebenen Pferden, die sie bald durch frische zu ersehen gedachten, davon, und wenige Augenblicke später fuhr der Wagen des Commissairs der Republik, der draußen auf der Gasse gewartet hatte, mit Saint-André und Bouilly, von den Husaren gefolgt, nach dem ehemaligen erzbischöflichen Palais, dem heutigen Tempel der republikanischen Gerechtigkeit und der Wohnstätte ihres ersten Priesters.

Wiederum waren zwei Stunden vergangen, für die Gefangenen in einer hoffnungsfreudigen Erwartung, die sie vollständig vergessen ließ, daß sie seit gestern Nachmittag nichts genossen hatten. René und Blanche hatten für nichts Anderes Sinn, als für ihre Wiedervereinigung, ihre Rettung aus drohender Gefahr, doch auch die beiden alten Leute, Gratien sowohl wie den armen Pujol, ließen sie theilnehmen an ihrem Glücke, das bald in einer stillen, seligen Herzensfeier sich äußerte, bald in himmelhoch jauchzenden Freudenlauten Ausdruck zu finden suchte. Da wurde endlich die große Pforte wieder geöffnet, und der neue Schließer trat ein. Er habe Befehl, die Gefangenen vor den öffentlichen Ankläger zu führen, so sagte der Mann und forderte dann die Vier auf, ihm zu folgen.

Als sie vor Bouilly in dessen zeitweiliger prächtiger Wohnung standen, sprach dieser vorerst zu Pujol ernst und jedes Wort betonend: „Nimm die Schlüssel der Abtei wieder an Dich; entlasse die Patrioten bis auf zwei, welche als Wache für die Gebäulichkeiten genügen; die Gefangenen sollen an anderem Orte abgeurtheilt werden.“

Nachdem Pujol und dessen Gefährte sich entfernt hatten und Bouilly sich mit den drei Gefangenen allein befand, sagte er nach einigen Augenblicken der Sammlung mit einer Verbeugung zu dem Grafen:

„Durch den Commissair der Republik ist mir die Weisung geworden, Sie nach beendigter Untersuchung dem Revolutions-Tribunal zu Paris zu überweisen. Doch dürften darüber noch mehrere Tage vergehen. Bis dahin soll – meine Wohnung Ihr Gefängniß sein, wenn Sie mir Ihr Wort geben wollen, dieselbe nicht ohne mein Wissen zu verlassen.“

Ein zitternder Freudenlaut Blanche’s beantwortete diese wohlwollende Rede, und Graf René blickte freudig erstaunt auf den ehemaligen Jugendfreund und entgegnete:

„Ich verspreche es Ihnen nicht allein mit meinem Ehren worte, sondern — gebe Ihnen auch die Hand darauf.“

Zugleich reichte er Bouilly die Rechte, die dieser gerührt ergriff und als ein Zeichen der Versöhnung mit freudigem Danke in der seinigen preßte.


Die Tage vergingen, und noch immer weilte Graf René von Semblancay mit seiner Gemahlin, nur dem Sinne nach, nicht in Wirklichkeit als Gefangener, in der Behausung des Beamten der Republik. Da nahte der 9. Thermidor, und bald langte auch von Paris die Kunde an von dem Sturze Robespierre’s und der Hinrichtung des Tyrannen und seines ganzen blutgierigen Anhangs: etwa hundert Personen, fast die ganze Pariser Commune sandten die Sieger auf die Guillotine. Die Schreckensherrschaft war vorüber, und wie Paris, athmete ganz Frankreich auf. Als Bouilly diese wichtige Kunde mit unverhohlener Freude seinem Gefangenen mittheilte, sprach er leuchtenden Blickes zu ihm:

„Nun sind Sie frei, Herr Graf, auf meine Verantwortung entlasse ich Sie, Ihre Frau Gemahlin und Ihren alten treuen Diener. Und nun hören Sie weiter, was ich mir für Ihre nächste Zukunft ausgedacht habe. Denn Vorsicht ist noch immer nöthig, und die besseren Zeiten werden wohl noch eine Weile auf sich warten lassen. In dem nahen Coudraye befindet sich das Haus meiner Eltern, es steht in der Obhut eines Mannes, der Vertrauen verdient. Eine Weisung ist bereits an ihn abgegangen, daß die Stätte meiner Geburt neue Bewohner erhalten wird, die er als Herren des Orts zu betrachten hat. Ich biete Ihnen das Haus mit Allem, was es enthält und umfaßt, als ein Asyl an, das Ihnen Sicherheit gewähren wird, und zwar für so lange, als Sie es mit Ihrer Gegenwart zu beehren für gut und rathsam finden werden. Ich hoffe, Herr Graf, daß Sie mein wohl gemeintes Anerbieten nicht zurückweisen werden, und müßte ich dazu als Beistand – die Erinnerung an alte, glückliche Zeiten in Ihrem Gedächtniß wieder wachrufen.“

Graf René war vollends besiegt. Tief gerührt entgegnete er rasch:

„Nur von einem Freunde kann und darf ich einen solchen edelherzigen Dienst annehmen, und ich thue es mit innigstem Danke für mich und meine Blanche, indem ich Ihnen betheuere,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_827.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)