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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

empfangen! Er ließ die Leute ihren Bericht kaum zu Ende bringen, als er schon schrie: „Das ganze Complot ist entdeckt! Der alte Vendéer hat die Dirne mitgenommen, die den Gefangenen befreite, und Pujol ist ihr Complice. Nun haben wir ein Recht den Verräther einzusperren, und daß er mit den Anderen auf die Guillotine muß, dafür werde ich zu sorgen wissen. Ihre Köpfe sollen mir nicht entgehen, denn für morgen bin ich der Henker! Angefaßt, Cameraden, und in’s Gefängniß mit der Satansbrut!“

Während die Horde der Wächter ihrem neuen energischen Führer zujubelte, stahl einer von ihnen sich heimlich durch das Thor, um zu dem öffentlichen Ankläger zu eilen, diesem den Vorgang zu melden und sich dadurch wohl einen Lohn zu verdienen. Der arme Pujol war durch den Anblick Margot’s und des alten Gratien wie vom Blitz getroffen worden, und mit seiner Kraft schien ihm nun auch die Besinnung zu schwinden: er wußte, daß jetzt Alles verloren sei, für die armen Gefangenen sowohl, wie für ihn. Willenlos ließ er sich mit Margot und Gratien davonführen, und unter wilden Flüchen wurden die Armen in den öden Kirchenraum gestoßen. Dort sperrte Le Borgne sie zur größeren Vorsicht in eine der Seitencapellen ein, die noch mit ihrem starken Eisengitter versehen und besonders zu verschließen war.

Als Le Borque wieder im Hofe anlangte, blieb er plötzlich stehen, reckte seine lange knochige Gestalt, und während seine großen Augen gleich denen eines Raubthiers funkelten, sprach er mit einer Ruhe, die auffallend gegen die Wuth abstach, welche er soeben noch ungehindert hatte walten lassen, zu seinen Genossen:

„Jetzt merkt auf! Ich verlasse den Hof und die Stadt, und Ihr wacht über die Gefangenen – mit Euren Köpfen bürgt Ihr mir für sie! Die Schlüssel nehme ich mit, und bis ich wiederkehre, laßt Ihr Niemand – hört Ihr, Niemand, wer es auch sei, in den Hof – auch den Bouilly nicht, denn der steckt mit in dem Complote. Bald bin ich wieder zurück, und dann soll ein promptes, echt republikanisches Blutgericht über die Schurken gehalten werden, den rechten Richter bringe ich mit: – den Bürger Carrier von Nantes!“

Ein teuflischer Jubel folgte diesen Worten, und unter dem Rufe: „Es lebe Le Borgne, der echte Sansculotte und Jacobiner!“ verließ dieser den Hof des Gefängnisses, dessen Eingang dann nach seinem Befehle von innen mit dem schweren Riegel für Jedermann; selbst für den öffentlichen Ankläger des Revolutions-Tribunals, Bouilly, geschlossen wurde.

Keine Viertelstunde später sprengte Le Borgne auf einem guten Pferde über die lange Brücke und bog dann in die Straße ein, welche westwärts nach Angers und Nantes führte.


Unter den Terroristen, welche den Wohlfahrtsausschuß und die Commune, den Pariser Gemeinderath, bildeten und zur Zeit Paris und Frankreich beherrschten, war ein heimlicher Zwiespalt ausgebrochen, der bald immer offener sich kundgeben und endlich zum Sturze Robespierre’s, des Hauptes der Comités, und seines ganzen Anhangs, zu dem blutigen und folgewichtigen „9. Thermidor“ führen sollte. Die mit unbeschränkter Vollmacht nach Norden, Süden und Westen ausgesandten Commissaire des Wohlfahrtsausschusses, denen der Auftrag geworden, die Royalisten und Föderirten unbarmherzig durch die Guillotine oder vermittelst Pulver und Blei zu beseitigen, hatten ihre Aufgabe in einer Weise erfüllt, daß sich darob von einem Ende Frankreichs zum andern Entsetzensschreie erhoben. Besonders waren es die „Noyaden“, die sogenannten „republikanischen Hochzeiten“, von dem Proconsul Carrier in dem unglücklichen Nantes veranstaltet, bei denen sich zu einer unmenschlichen Grausamkeit noch ein wollüstiger Hohn gesellte, die eine allgemeine Empörung hervorriefen und selbst von den Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses gemißbilligt wurden. Diese wollten zwar auch eine gänzliche Vernichtung der Feinde der Republik, doch sollte dies rasch und mit so wenig Aufsehen als möglich bewerkstelligt werden. Der halbwahnsinnige Lebon, der Verwüster von Arras und der Normandie, wurde nach Paris vor das Comité berufen und mit heimlichem Tadel, doch mit öffentlicher Billigung seines unmenschlichen Verfahrens wieder in jene unglücklichen Departements zurückgeschickt. Commissaire, mit Instructionen und Vollmachten versehen, sollten nach den übrigen Departements abgehen, die verschiedenen Revolutions-Tribunale zu revidiren.

An die Spitze der Commission der Civil-Administration, der Polizei und Tribunale, der ersten jener zwölf Commissionen, welche unter dem Regimente des Wohlfahrtsausschusses die alten Minister ersetzten, war der berüchtigte Präsident des Pariser Revolutions-Tribunals, Armand Hermann, getreten, derselbe, welcher Marie Antoinette, die Hebertisten und Dantonisten zur Guillotine verurtheilt hatte. Von ihm war Carrier nach Nantes gesandt worden, nun schickte er ihm, klug der Strömung nachgebend, welche sich insgeheim, doch immer deutlicher gegen Robespierre geltend machte, den „Commis-Voyageur“ des Wohlfahrtsausschusses, den immer unterwegs sich befindenden Saint-André mit der nöthigen Begleitung nach. Er sollte Carrier von Nantes abberufen, nach Paris führen und dann dessen Nachfolger in der halbverwüsteten und verödeten Stadt werden, jedoch insgeheim erhielt er die Weisung, das dortige Revolutions-Tribunal in seinen Befugnissen zu beschränken oder aufzulösen und die noch vorhandenen Gefangenen nach Paris zu senden, wo man rascher und geräuschloser mit ihnen fertig zu werden hoffte.

Saint-André langte mit seinen drei Begleitern, einem Secretär und zwei Commissairen, in Nantes an, als die Vernichtungswuth Carrier’s wohl ihren höchsten Grad erreicht hatte. Der unselige Mensch war wie vom Blitze getroffen, als ihm so unerwartet und plötzlich ein Halt zugerufen wurde. All sein rasch wieder erwachter Grimm, sein Toben und Drohen, seine in den grellsten Farben ausgeführte Darstellung der Lage, der Gefahren, welche der Republik drohten, wenn man seinem allein zum Ziele führenden Verfahren Einhalt gebiete, fruchteten nichts. Die Functionen des Revolutions-Tribunals von Nantes wurden, gewiß unter dem heimlichen Jubel und den inbrünstigsten Dankgebeten der wieder aufathmenden Bewohner der unglücklichen Stadt, von Saint-André vorläufig suspendirt, und Carrier mußte sich zur Abreise nach Paris bereit halten. Während die andern Commissaire die Acten des Tribunals durchsahen, die Gefangenen verhörten, um einige davon sofort wieder in Freiheit zu setzen, jedoch den größten Theil in einzelnen Trupps durch die Marat-Compagnic über Le Mans nach Paris transportiren zu lassen, fuhr Carrier mit Saint André, einem vertrauten Schreiber und der nöthigen Bedeckung über Angers, Saumur nach Tours und Orleans, um auch die dortigen Revolutions-Tribunale zu visitiren.

Es war ein stolzer Zug, der da auf der Landstraße, die schönen Ufer der Loire entlang, dahinfuhr, würdig des Repräsentanten des Wohlfahrtsausschusses und Robespierre’s. In einem offenen Reisewagen mit vier kräftigen Pferden bespannt, den man in Nantes aufgetrieben hatte, saßen die beiden Volkstribunen mit ihrem Schreiber. Vorauf ritten zwei Husaren in ihren blau verschnürten Jacken, die, wenn auch bestaubt und herabgekommen, sich doch noch immer recht schmuck ausnahmen. Auf dem Haupt trugen sie die hohe, spitzzulaufende Mütze, unter der zu beiden Seiten die langen Haarflechten niederhingen, die noch ein Ueberbleibsel des ancien Régime waren, welches die Regimenter sich nicht nehmen lassen wollten. Vier andere Husaren beschlossen den Zug. Carrier’s Aeußeres erschien vernachlässigt, er hatte in Nantes Anderes zu thun gehabt, als an seinen Putz zu denken. Wohl trug er den Federhut und die dreifarbige Schärpe nebst dem langen Schleppsäbel an der Seite, doch die Farben der Hutzier wie die der Schärpe waren verblichen und beschmutzt, und die Klappen der Weste, welche sich nach republikanischer Mode weit über den Rock hinauslegten, sahen eher grau als weiß aus. Dagegen war sein Nachbar Saint-André in einer fast theatralischen Weise herausgeputzt. Seine in greller Farbenfrische prangenden Federn stiegen von dem einmal aufgeklappten Hute stolz in die Luft empor und waren durch das Rütteln des Wagen in immerwährender Bewegung. Sie nickten nach allen Seiten hin, als ob sie in herablassender Weise hätten danken wollen für die Zeichen der Bewunderung, der Unterwürfigkeit, die ihrem Besizer, dem Freunde des großen Robespierre, dargebracht wurden. Und doch war die Straße leer, das Land wie verödet, und anstatt dem stolzen Zug sich zu nähern, wenn er herankam und vorüberflog, zogen die Menschen sich zurück, als ob eine pestbehaftete, fluchwürdige Erscheinung vor ihnen aufgetaucht wäre, erleichtert aufathmend und sich heimlich bekreuzigend, wenn sie wieder verschwunden war. Die Unterhaltung zwischen dem abgesetzten und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_802.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)