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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 48.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Das Urbild des Fidelio.

Erzählung von Ernst Pasqué.
(Fortsetzung.)


Graf René stand auf dem Punkte, dem alten sansculottischen Henker Pujol ein Geheimniß preiszugeben, das seiner Gattin ein gleich entsetzliches Loos bereiten konnte, wie das seinige, und er zögerte, doch nur wenige Augenblicke, dann sprach er mit festem Entschluß:

„Es muß sein. Ich will mein Vertrauen zu Euch festhalten, und Ihr werdet es nicht täuschen, ich fühle – ich weiß es, und deshalb hört! Mein Weib, meine arme, theure Blanche jammert mich!“ fuhr er plötzlich mit weicheren Tönen fort, „von ihr muß ich Nachricht haben und Ihr – sollt sie mir bringen.“

„Sagt, wo sie zu finden ist, aber schnell! Ich weile schon zu lange bei Euch,“ tönte es rauh, fast grimmig in die Klagelaute des Grafen.

„Geht nach dem Dorfe Verets,“ fuhr dieser fort, „am Cher und nicht weit von den Grotten der Savonnière gelegen, wo man mich verrieth und fing. Dort fragt nach dem Bauer Gratien, der wird Euch Auskunft geben.“

„Morgen Vormittag habt Ihr Antwort,“ sprach Pujol hastig, „und nun merkt genau auf das, was ich Euch sage. Noch einmal kehre ich zu Euch zurück mit einem der Patrioten, dem allerschlimmsten und allergefährlichsten. Achtet nicht darauf, was er etwa sagen wird, noch was ich vielleicht ihm antworte oder sonst mit ihm reden werde. Ihm muß ich die Aufsicht über Euch anvertrauen, wenn ich mich entfernen und keinen Verdacht dabei erregen soll. Doch wahret Glauben und Vertrauen – vor Jenem schütze ich Euch.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Pujol die Sacristei, das schwere Schloß knarrte, und der Gefangene war wieder allein. Nun trat er einem der Fenster näher und schaute hinaus in den Hof und auf die Gruppe der in der Ferne bei dem Eingang weilenden Sansculotten, welcher Pujol sich jetzt in seiner gebückten mürrischen Haltung näherte.

„Ohe! Le Borgne!“ rief er den Männern schon von weitem entgegen, „komm’ heran! Laß die Karten und die Flasche, hab’ wiederum Arbeit für Dich.“

Aus der Gruppe der zechenden und spielenden Sansculotten löste sich langsam ein Mann, der wohl das abschreckendste Aeußere von all den dort Versammelten zeigte. Es war ein langer hagerer Mensch in einer schmierigen, zerrissenen Carmagnole, den Kopf mit der rothen Mütze wie spähend vornüber geneigt. Das linke Auge saß schief und wie geschwollen in dem fahlen, ewig grinsenden Antlitz, das nur Widerwillen und Furcht erregen konnte. Er hatte vor Monaten in einem Handgemenge eine Verletzung erlitten, wodurch er, wenn auch gerade nicht um das eine Auge gekommen, doch in solch böser Weise gezeichnet worden war. Deshalb nannte man ihn, anstatt mit seinem Namen Gaillard, nur mit dem Spitznamen „Le Borgne“, der Einäugige. Sein abstoßendes Aeußere paßte vollkommen zu seinem Charakter. Er war ein heimtückischer, grausamer und nach jeder Richtung hin gefährlicher Mensch und versah zeitweise Pujol’s Dienst als Gefängnißwärter, wenn dieser hinaus auf den Richtplatz mußte. Mit schlürfenden Schritten näherte er sich Pujol, und diesem von unten herauf lauernd in das Gesicht schauend, fragte er ihn:

„Was soll’s, Pujol? – Ich dachte schon, Du würdest gar nicht mehr zum Vorschein kommen, der Cidevant hätte Dich entweder umgebracht, oder – Du complotirtest mit ihm.“

„Um seinen Kopf zu erlangen? Dazu bedarf es keines Complots; morgen fällt er von selbst in den Sack!“ entgegnete der Alte mit lauter Stimme, auf den cynischen Ton des Andern eingehend. „Und damit der seltene Bissen meiner Guillotine, die schon zu lange hungert, nicht entgehe, sollst Du wieder einmal mein Stellvertreter sein. Denn ich muß zum Citoyen Bouilly – und später wohl hinaus in’s Land.“

„Her mit den Schlüsseln!“ rief Le Borgne mit einer hämischen Gier, die hageren Finger nach dem Schlüsselbunde Pujol’s ausstreckend.

„Geduld, Freundchen! Erst thue Deine Pflicht als mein neuer Gehülfe, fülle den Krug dort mit Wasser und dann erwarte mich.“

Nach diesen Worten trat er in seine Wohnung, während Le Borgne einen großen Steinkrug nahm und diesen an dem laufenden Brunnen mit Wasser füllte. Bald kehrte der Alte zurück. Er trug einen Laib Brod unter dem Arme und sagte zu seinem Gefährten: „Komm!“

Nun schritten Beide wieder der Kirchenruine zu, und Le Borgne warf scheinbar gleichgültig, doch mit einem giftigen Blicke auf das große Brod die Worte hin: „Du verproviantirst den aristokratischen Schuft ja, als ob er noch eine Woche zu leben hätte! – Von Rechtswegen müßte sein Kopf jetzt schon in Deinem Sacke stecken. Säße der Carrier hier und nicht in dem vermaledeiten aristokratischen Nantes, das er doch noch mit Stumpf und Stiel ausrotten wird, so hätte der cidevant Graf zur Freude aller wahren Sansculotten sofort der Sainte Guillotine seine Reverenz gemacht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 781. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_781.jpg&oldid=- (Version vom 26.4.2024)