Seite:Die Gartenlaube (1884) 696.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

war, wo man den eigenthümlichen Charakter der Backsteingothik verlassen oder gefälscht, wo man die zierlichen Zinnen der Giebelhäuser abgetragen und durch die Horizontale des gespreizten und geschmacklosen ersten Kaiserreichs ersetzt, wo man die feinen Gliederungen und farbigen Figuren der gebrannten Ziegel mit Gyps, Stuck u. dergl. überschmiert und ihnen den Anschein von Marmor oder von Haustein zu geben versucht hatte, ist in neuerer Zeit eine gesunde Reaction eingetreten. Man wendet sich zu Gunsten der Formen, welche sich zur Zeit des Naturlebens der Kunst, fern von jedem fremden, namentlich auch classischen Einflusse, unter der Einwirkung eines stark hervortretenden Bewußtseins städtischer Besonderheit gebildet haben, wieder ab von der Geschmacksrichtung einer kritischen und reflectirenden Periode. Man restaurirt und man restaurirt richtig. Unser Zeichner veranschaulicht den Charakter von Brügge vortrefflich durch ein Canalbild, ein Platzbild und durch das Innere eines flandrischen Hauses (s. S. 693, 695 u. 696).

In dem lateinischen Verzeichnisse der Städte Niederdeutschlands von 1524 („Catalogus urbium Germaniae inferioris“) heißt es – ich übersetze wörtlich – von der Stadt Brügge:

„Der öffentlichen und privaten Gebäude Glanz und Pracht übertrifft alle und jede Rede und jede Möglichkeit des Ausdrucks: Wenn mit Wenigem Alles gesagt werden soll, so ist kein Ort der Welt geeigneter, zur Weide des Auges und zur Aufrichtung und Erfrischung des Geistes zu dienen. Gent, Antwerpen, Brüssel, Löwen und Mecheln (Gandovum, Hantwerpia, Bruxella, Lovanium, Mechlinia), – das sind alles schöne Städte, aber sie sind nichts verglichen mit Brügge („sed nihil ad Brugas“)!“

Und dieses Urtheil datirt von 1524, wo die Zeit der höchsten Blüthe schon vorüber war, wo Gent aufkam und Antwerpen sich anschickte, schließlich beiden den Rang abzulaufen.

Wir verließen Brügge nur ungern. Die Kunstschätze, namentlich die unsterblichen Werke des Hans Memling, welcher den Uebergang von der Miniatur- zur Oelmalerei bildet und die Vorzüge beider in sich vereinigt, hätten von Rechtswegen ein längeres Studium erfordert, und mit unseren neu gewonnenen flandrischen Freunden hätten wir gern noch ein paar Tage verplaudert.

Die Letzteren machten uns jedoch das Vergnügen, unserer Einladung Folge zu leisten und uns bis Ostende zu begleiten. Die Absicht, unser Abschiedsmahl, zu welchem die durchaus nicht zu verachtende „Schwanen“-Küche alle Kräfte aufgeboten, auf Deck einzunehmen, wurde durch einen stürmischen Gewitterregen vereitelt, wie er uns während unserer Flanderfahrt öfters heimsuchte. Indeß auch in der Kajüte entwickelte sich ein reger geistiger Austausch. Am beifälligsten aufgenommen wurde der Toast des Professors Wätzold aus Hamburg auf die Professoren Frederick aus Gent und Sabbe aus Brügge, die treuen Wahrer flandrischer Sprache und Sitte. Dazwischen sangen wir – ein Jeder so gut wie er konnte, das alte:

„Vlanderen boneval!“

von Hoffmann von Fallersleben und das von unserem vortrefflichen Dr. Koppmann in altem Stile neu gedichtete „Vitalien-Brüder-Lied“, mit dem Refrain:

„Mord unde Brand!
Den leven Got tu Vrund,
Und aller Werld Viand!“,

das ist: „Mord und Brand! Den lieben Gott zum Freund und aller Welt Feind!“ Es klang schaurlich, aber es war gut gemeint; denn in der That, wir waren lustige „Victualien“-Brüder.

Blick in ein flandrisches Haus.

Ein großer Theil der Bevölkerung Brügges gab uns, als die Sonne wieder schien, noch eine gute Strecke das Geleit canalabwärts zu Lande. Darunter Reiter und Wagen und auch zwei rüstig fürbaß schreitende stattliche Kapuziner. Das Land auf beiden Seiten glänzte in frischem Grün; die Wiesen sammtartig, wie die Matten der Alpen, während bei uns zu Hause die Sonne Alles gelb gebrannt hatte.

Auch diesmal hatte der „Schwan“ mancherlei Schwierigkeiten in den mäandrischen Windungen des Canals zu überwinden. Einige Male saß er auch fest, und in Ostende mußten wir Halt machen, denn die Schleuse war noch nicht praktikabel. Viele fanden darin eine willkommene Gelegenheit, sich das Bad anzusehen, zu dessen Verfeinerung auch in neuester Zeit wieder Manches geschehen ist.

Am andern Morgen fuhren wir weit hinaus auf die hohe See, um dann in zwei Tagen und einer Nacht zurückzukehren. Poseidon meinte es gut mit uns. Der zweite Tag namentlich war von entzückender Schönheit und versöhnte auch Die, welche ein wenig an schwankenden Anwandlungen oder kleinen Katastrophen gelitten hatten. Der Photograph, Herr Kindermann, machte während der Fahrt prachtvolle Aufnahmen von Meeresansichten.

An dem im Sonnenlichte roth erglänzenden Helgoland vorbei, dampften wir in die Elbe. Noch vor sechs Uhr Abends schifften wir uns in Hamburg aus an der Schiffslände von Sanct Pauli.

Wir trennten uns, indem wir einander ein fröhliches Wiedersehen wünschten und uns der in ungetrübter Harmonie gemeinsam verlebten schönen Tage des Gesellschafts-, Kunst- und Naturgenusses und mannigfaltiger Belehrung erfreuten, – jener Tage, die gewiß noch lange in eines Jeden Gedächtniß lebendig bleiben werden.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 696. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_696.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)