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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

eine Verständigung zu suchen, jetzt aber empfand er Verlangen darnach. Verheirathet, ehe er den Wunsch empfunden, hatte er den Besitz der liebenswürdigen Frau bis jetzt nicht zu schätzen gewußt. Es war nicht das Rechte zur rechten Zeit gewesen. Aber sollte sich nichts nachholen lassen? Getrieben von einem warmen Impulse, verließ er die milde alte Frau mit dem guten Vorsatz, einmal bei seinem jungen Weibe anklopfen zu wollen.

Seine Gemahlin trauerte wie er; sie hatte gleich nach ihrer Rückkehr von der Ettersburg Nachricht vom Tode ihrer geliebten Schwester – der Großfürstin Paul in Petersburg – erhalten, und ihm fiel ein, daß er sie in den letzten Tagen nur flüchtig und dann mit verweinten Augen gesehen habe. Mitleidige Sympathie und eine größere Gleichstimmung als je zuvor ließen ihn mit erwartungsvoll pochendem Herzen ihrer Thür nahen.

Luise saß in tiefes Schwarz gekleidet, die Hände im Schooß gefaltet, das feine, bleiche Haupt gesenkt, in ihrem Zimmer, dem Vorlesen ihrer Gesellschaftsdame, des Fräuleins Henriette von Wöllwarth, lauschend. Es war ein Gesang aus Klopstock’s eben erschienenen Messias, den Henriette mit kräftig ernster Stimme und einem gewissen monotonen Pathos vortrug.

Als der Herzog, den man nicht gewöhnt war um diese Stunde hier zu sehen, plötzlich eintrat, blickten sich beide Damen erschrocken nach ihm um und erhoben sich gleichzeitig zur Begrüßung; Luise sank müde wieder auf ihren Stuhl zurück, das Hoffräulein machte eine tiefe Verbeugung.

Karl August reichte seiner Frau mit theilnahmsvollem, zärtlichem Ausdruck seiner lebhaften Augen die Hand; Luise senkte ihre Blicke, die sie nur flüchtig erhoben hatte, sogleich wieder und verharrte in einer matten Apathie.

Sich jetzt zu dem Hoffräulein wendend sagte der Herzog einfach: „Ich möchte mit meiner Frau allein sein.“

Henriette sah ihn erstaunt an, so ernsthaft und ruhig war ihr Gebieter nie gewesen; sie wiederholte ihre Verbeugung und verließ das Zimmer, worauf er ihren Platz einnahm.

Jetzt blickte auch die Herzogin fragend zu ihm auf.

Als er schwieg und – wie stets, von ihrer Erscheinung, ihrem Ausdruck erkältet – nicht gleich das rechte Wort finden konnte, um eine Unterhaltung anzuknüpfen, rief sie:

„Ist etwas Besonderes geschehen? Ist wieder eine Trauerbotschaft gekommen?“

„Nein,“ entgegnete er ernsthaft, „ich dächte, wir hätten Beide genug.“

„Wir?“ fragte sie, und lehnte sich mit kühler Gereiztheit zurück. „Bis jetzt hast Du an meinem Verlust, der mich so tief schmerzt, nicht diesen persönlichen Antheil genommen.“

Er ward verlegen. Niemals sonst – nur ihr gegenüber, die es hätte vor Allen verstehen sollen, ihn behaglich zu stimmen – hatte Karl August mit einer Anwandlung von Verlegenheit zu kämpfen. Und da etwas Derartiges seiner freimüthigen Natur fern lag, seinem Blut ein fremder Tropfen war, dessen er sich gewöhnlich in derber Weise entledigte, ward dieser lästige Einfluß, der von ihrer Persönlichkeit auf ihn ausging, eine der Ursachen jener traurigen Entfremdung, welche zwischen ihnen bestand.

Karl August hatte in seiner geraden Arglosigkeit in der That gar nicht daran gedacht, daß er kaum Theilnahme von seiner Frau bei dem Verluste einer Coeur-Dame erwarten könne, die, ihrer ganzen Art nach himmelweit von Luisen verschieden, dieser gewiß sehr wenig sympathisch gewesen war. Was sollte er jetzt sagen? Sollte er plötzlich über den Tod der ihm unbekannten Schwägerin mit ihr klagen, oder sollte er seinen von dem ihren so verschiedenen Herzenskummer ihr verrathen? Sein gerader Charakter verschmähte Alles, was einer Verstellung ähnlich sah, und so erwiderte er ihr nach kurzer gedankenvoller Pause: wie er ja über den Tod der Schwester ihr sein Bedauern längst ausgesprochen, wie sie keinen eigentlichen Schmerz von ihm erwarten könne, da er die Verstorbene nie gesehen habe, und wie er jetzt betrübt zu ihr komme, um ihre Theilnahme an dem Tode der kleinen Werthern – der ihm nahe gehe – zu suchen, bei deren trefflicher alter Schwiegermutter er eben gewesen sei.

„Die kleine Werthern?“ sagte Luise kühl, „ja, ich hörte, daß sie plötzlich irgendwo auf dem Lande gestorben sei. Das mag einer so lebenslustigen Person schwer geworden sein; da sie es aber einmal überstanden hat, wüßte ich nicht, was mein Gemahl in ihr oder mit ihr verloren haben könnte?“

Sie sprach das in der allerruhigsten, gleichgültigsten Weise. Sie hätte ihn um die Welt nicht verrathen mögen, welche peinvollen Stunden eifersüchtiger Sorge sie der hübschen Verstorbenen halber schon durchlitten, wie oft sie sich gekränkt gefunden, wenn sie gesehen, daß Emilie es verstand, den Herzog zu erheitern, und wie viele Male sie die Leichtigkeit und Grazie jenes jungen Weibes zu besitzen gewünscht hatte. Sie that aber jetzt, als habe sie nie geahnt, daß der Herzog Milli bevorzuge.

Er begriff diese Arglosigkeit nicht, die er für volle Nichtbeachtung seiner selbst nahm.

„Wenn ich froh und lustig bin,“ sagte er jetzt in verdrießlichem Tone, „willst Du nichts davon hören; wenn mich etwas betrübt, ist Dir’s einerlei; ich möchte wissen, wann wir uns einmal in derselben Empfindung begegnen, und ob wir uns jemals verstehen werden?“

Dieser Vorwurf berührte das Herz der jungen Frau auf das Schmerzlichste, da er die Wahrheit traf; die Wahrheit, welche sie anerkennen mußte, so sehr sie auch darunter litt. Was sollte sie aber thun? Wie konnte sie mit ihm über den Tod einer Frau trauern, deren Hinscheiden ihr doch die größte Erleichterung verschaffte! Sie war viel zu rein, viel zu stolz, sich mit der Lüge einer solchen Trauer zu beflecken, und fand in ihrem hülflosen Ungeschick keinen anderen Ton, als den kühler Gleichgültigkeit. Ihre geringe Anlage für unbefangene, liebenswürdige Gefühlsäußerungen wurde aber unter den ihr beschiedenen Verhältnissen weder geweckt noch gepflegt. Karl August besaß nicht die Zartheit und Consequenz, um ihr Empfinden heraus zu locken und zu schonen. Ihre scheue Zurückhaltung, ihr Festhalten an der anerzogenen strengen Form langweilten ihn; er wollte heitere, ankömmliche, derbe Menschen! – Wagte sie sich einzelne Male mit leisen Symptomen ihres Empfindungslebens hervor, so beachtete er dieselben, an stärkere Reizungen gewöhnt, gar nicht, verschüchterte sie, widersprach ihr und beging täglich Dinge, die sie – wenn sie es gewagt hätte, ihn streng nach ihrem Sinne zu beurtheilen – Rohheiten und Tactlosigkeiten genannt haben würde. Sie liebte ihn aus Pflichtgefühl – eine davon abweichende Neigung wäre dieser Natur nicht möglich gewesen – und empfand es stets als Schmerz, ihm ihre Liebe nicht zeigen zu können. Aber ebenso wie ihr Sein einen Druck auf ihn ausübte, so empfand sie in seiner Nähe die Scheu der zarten Seele vor der Möglichkeit einer von ihm ausgehenden harten Berührung.

Auch diesmal fanden Beide keine Verständigung.

Der Herzog ließ sich, halb aus Aerger und Eigenwillen, jetzt noch lobender über die Verstorbene und betrübter über den Verlust aus, welchen er mit ihr erlitten, als er vorher gewollt hatte. Er sagte mehr, als er empfand, sagte, daß er Milli gern gehabt habe. Luise ärgerte ihn mit ihrer kühlen Passivität, mit der er nichts anzufangen wußte. Hätte er sie doch aufstacheln, beleben, einmal zur Heftigkeit reizen, bis auf den Grund zur vollsten Offenheit erschließen können! –

Sie war ein Wesen, das er nicht begriff; ihr schweigendes Zurückweichen hielt er für Trotz, ihr stilles Dulden für Kälte, er glaubte, es liege nur an ihrem mangelhaften guten Willen, sich ihm so warm und offen zu geben, wie er sie zu finden begehrte.

Als er sie jetzt wieder so weit in sich verscheucht sah, daß sie bewegungslos mit niedergeschlagenen Augen dasaß, kein Wort sprach, kaum zu hören schien, sprang er auf, murmelte zwischen zusammen gebissenen Zähnen: „Automat!“ und stürzte fort.

Er fühlte sich so sehr in seinem innerstern Gleichgewicht gestört, daß er aus eigener Kraft kein Behagen wiederfinden konnte und sich mächtig gedrängt fühlte, ein Aussprechen mit dem verständnißvollen Freunde zu suchen. Unverweilt eilte er nach Goethe’s Gartenhaus am Stern hinaus, um sein Herz vor dem Getreuen auszuschütten. Es war ein schöner, warmer Sommerabend; Goethe begoß seine neben dem Häuschen gelegenen Blumenfelder. Sowie er, sich von seiner Arbeit aufrichtend, dem heranstürmenden Herzoge in’s Gesicht sah, las er in dessen erregten Zügen, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müsse. Prüfend und fragend senkten sich seine Blicke in die Augen des Andern.

„Komm, Wolfgang,“ sagte der Fürst gereizten Tones, „laß Deine Blumen und schenke mir die Wohlthat einer liebevollen Linderung meiner Herzensdürre.“

Er nahm Goethe’s Arm und zog ihn unter die Bäume, auf schattigen Terrassenwegen hinan, auf denen sie in der Stille und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_531.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2022)